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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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die Redlichkeit eines Menschen, gar eines Denkers immer für den höchsten Maßstab halten wird, gesteht ohne jeden Vorbehalt: Hier, wo ich von den Erholungen meines Lebens rede, habe ich ein Wort nöthig, um meine Dankbarkeit für das auszudrücken, was mich in ihm bei weitem am Tiefsten und Herzlichsten erholt hat. Dies ist ohne allen Zweifel der intimere Verkehr mit Richard Wagner gewesen. Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle – der t i e f e n Augenblicke … 84 .
    Und diese Tage beginnen jetzt.

Cosimas Kinder, um 1873
(v. l. n. r.): Isolde, Eva,
Siegfried, Blandine und
Daniela.
    Siegfried!
    Übermorgen? Der Hausherr zögert, er will absagen.
    Er hat eine hochschwangere Frau, jeden Tag kann das Kind kommen, und niemand, nicht einmal Richard Wagner, vermag sich unter so fortgeschrittenen anderen Umständen auf Gäste zu konzentrieren. Doch Cosima wehrt ab; der Professor muss ihr wirklich sehr gut gefallen haben. Der Besuch werde sie zerstreuen, er solle nur kommen. Das ist die vorerst letzte Eintragung ihrer Hand im Tribschener Haustagebuch, dessen Schriftführerin sie ist. Danach schreibt Wagner selbst weiter. 5. Juni: »Heil dem Tage.« Das ist aus »Siegfried«. Anlass zu solcher Notiz kann unmöglich der Professor sein.
    Die werdende Mutter unterhält sich durchaus gut in der Gesellschaft ihres Mannes und des Gastes, sie genießt die Ablenkung des Besuchs, bis sie sich zunehmend von der Ablenkung abgelenkt sieht. In ihr gerät zu viel in Bewegung, gegen elf Uhr geht sie zur Ruhe, während der Gast ihrem Mann Briefe seines Mitwagnerianers Rohde vorträgt.
    Ruhe? Kurz nach Mitternacht verlässt sie ihr Schlafzimmer im ersten Stock, vielleicht will sie den Hausgast in seiner ersten Tribschener Nacht nicht zu sehr erschrecken. Sie trägt Kissen und Bettdecke in die untere Kammer, zu Wagner. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie das längst tun müssen. Der große Schlafzimmerstreit des Tribschener Paares liegt gerade zwei Tage zurück: Wagner war der Ansicht gewesen, dass Cosima auch in der Nacht zu ihm gehöre, also bei ihm im Erdgeschoss schlafen müsse, aber sie lehnte das ab. Unmöglich, vor den Augen ihrer Kinder, der Bülow-Mädchen, bei einem Mann zu schlafen, der nicht ihr Vater war! Das wäre Sünde. O mein Gott!, dachte Wagner, formulierte das nur etwas drastischer. Es war nicht ihre einzige Uneinigkeit der letzten Wochen. »Fern von hier« und »geheim« wollte sie ihr Wochenbett halten. Immer wieder hat sie darum gebeten. Aber ihn machte dieser Wunsch traurig, er kränkte ihn. Er war dagegen. Und nun?
    Nun muss sie, wenn schon nicht vor den Augen, so doch vor den Ohren eines ganz und gar Fremden ihr Kind bekommen.
    Sie weckt Wagner, der gerade zu Bett gegangen ist, wieder auf, um ihm mitzuteilen, dass er ganz ruhig bleiben soll: Die Wehen hätten begonnen. Er lässt die Hebamme holen und bleibt an Cosimas Bett. Die Hebamme kommt gegen drei Uhr in der Nacht und muss vorerst im Nebenzimmer warten. Es ist nicht bekannt, ob der Hausgast im ersten Stock bei dem nächtlichen Aufruhr im Haus gefragt hat, ob er irgendwie behilflich sein könne. Pferdenaturen hätten wahrscheinlich die Ankunft Siegfrieds verschlafen, aber die besitzt er nicht, und gut schlafen konnte er noch nie. Und dann noch im Hause des Genius selbst, unter seinem Dach! Hätte er nicht jeden ausgelacht, der ihm das noch vor Jahresfrist angekündigt hätte? Wahrscheinlich beschließt Friedrich Nietzsche hellwach, sich auf den Standpunkt der Tugend zu stellen, nein, zu legen und nichts zu sehen und nichts zu hören.
    Das Kind erschrickt nun wohl auch über seinen Weltankunftsvorwitz und verschiebt seine Ankunft auf Erden. Sein Vater weiß viel von der bergenden Nacht des Mutterschoßes, der eigentlichen Heimat des Menschen, und darüber, wie leichtsinnig es ist, ihn zu verlassen. Das einmal entbundene Leben wird nicht zuletzt ein Sich-Zurücksehnen sein. Und weil er alldem Noten fand, ahnen es nun viele. Der werdende Vater, der seine Frau in Obhut der Amme weiß, geht versuchsweise wieder schlafen, nur um kurz darauf wieder in die Kammer zu stürzen, in der die Gebärende und die Amme längst in den urtümlichsten Rhythmus überhaupt verstrickt sind. Cosima erschrickt bei seinem Eintritt, vielleicht lässt es auch das Schamgefühl der Baronin nicht zu, sich in einer derart

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