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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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kreatürlich-ursprünglichen Lage vor einem Mann zu zeigen. Doch auf solche Empfindlichkeiten kann er jetzt nicht Rücksicht nehmen, allerdings scheinen Entsetzen und Schmerz nunmehr ihm zu gelten; sie wendet sich ab, das tut ihm weh, er stürzt wieder hinaus in den angrenzenden offenen Salon. Der Professor verharrt, hellwach, wie wir annehmen dürfen, noch immer auf dem Standpunkt der Tugend. Oder er ist schon jetzt erfahren im Herbeiführen des künstlichen Schlafs und hat für alle Fälle Chloral genommen.
    Als die Amme kurz das Zimmer verlässt, ist Richard Wagner wieder am Bett der Niederkommenden, Cosima fasst seinen Arm wie eine Ertrinkende, doch die zurückkehrende Amme weist ihn wieder hinaus. Im Zimmer nebenan vernimmt Richard Wagner dann ein Finale, dessen Steigerungen nur Dissonanzen kennen, die er schwer erträgt.
    Gegen vier Uhr ist es vollbracht. Siegfried ist da! »Heil sei dem Tage!« Dem nunmehr dreifachen Vater kommen die Tränen. Er notiert die Beleuchtungsverhältnisse auf dem großen Felsen gegenüber: Die erste Sonne liegt auf dem Rigi. Die frühen Sonntagsglocken läuten.
    Die nunmehr fünffache Mutter findet zwar nicht die Kraft, das Tagebuch zu führen, aber einen Brief schreibt sie doch, und zwar an ihren Hausgast. Der will nun doch nicht – wie in Wagners Brief über die Lebensgewohnheiten der Handwerker vorgesehen – am Montag, sondern lieber gleich abreisen: »Nun seien Sie aber nur nicht auf Tribschen böse wegen der Neophyten-Confusion! Herzliche Grüsse CB « 102 .
    Neophyten-Confusion. Welch exklusive Anleihe im unverfänglicheren Reich der Botanik, um das Vorgefallene wortfähig zu machen. Eine gute Gastgeberin wählt den Zeitpunkt ihrer Niederkunft sorgfältiger.
    Cosimas Ehemann wird nicht davon unterrichtet, dass seine Frau ein Kind geboren hat. Das ist auch nicht nötig, denn er wird es gleich in der Zeitung lesen und sich einmal mehr fragen, was er sich ohnehin täglich fragt: Sollte ich mich erschießen? Er könnte auch Wagner erschießen, aber man erschießt keine Genies.
    Friedrich Nietzsche schreibt den Bericht dieses Wochenendes für seine Mutter: Mit Wagner und der genialen Frau von Bülow (Tochter Liszts) zusammen habe ich nun schon mehrere glückliche Tage verlebt, z. B. die letzten wieder, Sonnabend und Sonntags. Wagner’s Villa am Vierwaldstätter See gelegen, am Fuße des Pilatus, in einer bezaubernden See- und Gebirgseinsamkeit, ist wie Du Dir denken kannst, vortrefflich eingerichtet: wir leben dort zusammen in der angeregtesten Unterhaltung, im liebenswürdigsten Familienkreise und ganz entrückt von der gewöhnlichen gesellschaftlichen Trivialität. 103
    So kann man das auch formulieren.
    Die Baronin von Bülow – genial. Bei ihrer ersten Erwähnung überhaupt, in einem Brief an Rohde, nannte er sie gescheut . Das ist bemerkenswert.
    Nicht mehr lange, und Friedrich Nietzsche wird sich erste Rechenschaft darüber geben, wie die Schwangerschaft und der gesellschaftliche Status der Frau zusammenhängen: Das Weib hat zu gebären und ist damit zum besten Behufe des Menschen da, als Pflanze zu leben . Solche Äußerungen gehen natürlich nicht zuletzt auf die Rechnung der alten Griechen, mit denen der Professor schon berufsbedingt täglichen Umgang hat. Man könnte sie die größten Frauenverächter vor dem Herrn nennen, wenn dieser Bezug kein Anachronismus wäre – und in gewissem Sinne haben die Frauen dem Herrn durchaus ihre Emanzipation von der Pflanze zu verdanken: nämlich die als rippenursprüngliches Zweitgeschöpf Gottes.
    Der Professor schätzt Frauen auch deshalb nicht unbedingt, weil er in ihnen, gewissermaßen noch vor dem ersten Blick, Mutter und Schwester wiedererkennt, also die Agentinnen der Alltäglichkeit und des Philistertums. Umso erstaunlicher sind die Prädikate, die Friedrich Nietzsche für die Baronin findet. Wer hätte jemals von einer gescheuten Pflanze, gar einer genialen Pflanze gehört?
    Nun könnte man, die Professorenlogik aufnehmend, sagen, eine Frau erreiche den ihr möglichen Grad von Genialität genau dann, wenn sie ein Kind bekommt, aber der Gast von Tribschen – auf Tribschen, wie er gern sagt – ist jetzt nicht boshaft gestimmt, im Gegenteil.
    Und dass es sich bei jedem Zur-Welt-Bringen eines Werks in Wirklichkeit um eine Geburt handelt, ist ihm spätestens ab jetzt unverlierbare Gewissheit. Noch in diesem Sommer erfährt das auch Freund Rohde: Sieh das ist es: wir brauchen ewig Hebammen, und um sich entbinden zu lassen,

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