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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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s s e n Fleisch haben. Die andre Lebensweise bleibe den Bäckern und Bauern, die nichts als Verdauungsmaschinen sind. Die Logik des Professors ist an dieser Stelle nicht ganz verständlich: Warum sollten gerade Verdauungsmaschinen nicht auch Fleisch verdauen? Auf Wagner kann er sich an dieser Stelle nicht berufen, der hat nichts gegen Bäcker und Bauern. Und was unterscheidet Bäcker und Bauern eigentlich von Fleischern?
    Nach Maßgabe seiner Einsicht hätte es noch ein harmonischer Abend bei Wagners werden können, das Fatale war nur: Der Professor sah zwar alles ein und noch viel mehr, aß den Braten aber trotzdem nicht. Er hatte Gersdorff das Pflanzenköstlertum gelobt, er gedenkt sich daran zu halten, bis – so Nietzsche an den Freund – D u s e l b s t mir die Erlaubnis giebst anders zu leben. Es geht Nietzsche nicht anders als Wotan: Den Verträgen bin ich nun Knecht! – Ein Esel mit Prinzipien! Nun wird der Gastgeber wirklich böse.
    Und an den kleinen König darf er gar nicht denken. Denn der weiß im Grunde nur zu gut, was er ihm antut, wenn er ihm sein Werk nimmt und es schändet. Es gehe ihm wie einem Vater, »dem man sein Kind entrissen, um es der Prostitution preiszugeben«, wird er Ludwig bald schreiben.
    Nur drei Tage nach dem missglückten Mittagessen, am 22. September, wird das »Rheingold« in ebenso erzwungener wie demonstrativer Abwesenheit seines Schöpfers uraufgeführt.
    Wagala Weia! Wallala Weiala Weia! Der Kritiker des »Münchner Vaterlands« hört die Wogen des Flusses, sieht die Rheintöchter auf seinem Grunde und ist ganz sicher, geradewegs in ein »Hurenaquarium« zu schauen. Der Sänger Heinrich Vogl erhebt wegen Ehrbeleidigung seiner Frau, einer Rheintochter, umgehend Klage.
    Hörte der Kritiker des »Vaterlandes« denn nicht, dass er Zeuge der Schöpfung der Welt wurde? Schöpfung: Das weist eben nicht auf einen Töpfer bei der Arbeit, wie er einem Kind gleich Formen aus Lehm schafft, nein, das muss ein hochlöslicher Vorgang sein, ein Schweben. Wagner, der Musiker der Evolution, der Psychologe der Zukunft: Die Rheintöchter im Fluss sind von diesem noch nicht wirklich unterschieden. Es ist eine Gestaltwerdung, keine Gestalt. Darum ist es nur dieser eine Ton, nur dieses Es-Dur, minutenlang und länger. Wie viele deutsche Volkslieder hätte man singen können, bis er es endlich schafft, sich zu entwickeln – aber wohin? Vorläufig nur in seinen eigenen Dreiklang. Ja, es ist eine Frechheit, eine hochpräzise, eine geniale Frechheit. Erst wo diese Unschuld des Werdens den sexuellen Anklang bekommt – Alberich! –, wird die Differenzierung unaufhaltsam und ist der Sündenfall längst geschehen: Die Welt entsteht.
    Seit wann geben Opern Evolutionstheorien in Tönen und sind in dem Augenblick zu Ende, wenn die Welt da und schon nicht mehr zu retten ist?
    Noch ist kein Mensch an Fortsetzungsopern gewöhnt.
    Und die Hauptmeldung des Tages mahnt an Ende, nicht an Fortgang. Die Nachrichten aus München und die vom Brand der Dresdner Semperoper treffen zeitgleich ein. Einst hatte er, Richard Wagner, Revolutionär zu Dresden, das Dresdner Opernhaus mit in Brand gesteckt, zumindest ideell. Dann wurde Sempers Oper gebaut. Dann entwarf Semper Pläne für sein eigenes, Richard Wagners, nun gut, König Ludwigs, also Richard Wagners Opernhaus mitten in München. Und nun gibt es das erste nicht mehr, und das zweite wird es wohl nie geben. Also auch den »Ring« – niemals?
    Das »Rheingold« glänzte trotzdem, vor allem, wenn man die Bühne nicht sah, bei geschlossenen Augen. Überhaupt sollte man nur so Musik hören, meint schon seit längerem der Pflanzenköst ler. Wozu Bühne, wozu Kostüme, wozu das ganze Theater? Nichts als Ablenkung von den Noten. So fühlt er es schon jetzt. So sagt er es erst später.
    Der unbekehrte bekehrte Vegetarier fährt zum ersten Mal seit seiner Ankunft in der Schweiz nach Hause zu Mutter und Schwes ter und erteilt zwei Vorsichtsmaßregeln. Erstens dürft Ihr nicht vergessen, daß ich … mich für die Wintervorlesungen vorzubereiten habe: haltet mir deshalb alle irgend überflüssige Welt vom Leibe. Zweitens dürft Ihr mich in meiner Lebensweise nicht stören: … ich habe nämlich die letzte Zeit nach der Einladung von Gersdorff, von nichts als Brot Milch Weintrauben Früchten und einer Suppe gelebt. 131
    Wie anders ist seine Welt geworden, seit er Naumburg verließ. In der altvertrauten, ihm zu engen Stadt steht der Herbst vor seinem Fenster, der nordische

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