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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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im guten wie im bösen Sinne kaum gedacht werden kann. Wenn aber einer ohnehin liest, kann er dann nicht auch gleich Korrektur lesen? Und wer sollte dazu berufener sein als ein Philologieprofessor? Zum anderen wäre es sehr wünschenswert, wenn er noch vor Weihnachten einen Bogen zum Druck fertig machen lassen würde – für Cosima zum Fest. Es folgt eine halbe Seite Konkretion, wie das am besten zu setzen sei.
    Nur Tage später meldet sich die Baronin wieder: »Kennen Sie den Herrn Kieper gegenüber der Post?« Bei dem gibt es Wasserkrüge. Und was gäbe sie drum, so einen »Wasserkrug von sechs oder vier Gläsern umgeben auf gläsernem Plateau« zu bekommen. Der Buchhändler und der Buchbinder, der Puppen- und der Gläsermann mögen die Rechnungen nur direkt an sie schicken.
    Außer als Christkind hat Friedrich Nietzsche auch noch ein Engagement als Professor, doch darauf kann Cosima jetzt keine Rücksicht nehmen. Was wirklich noch fehle zum Fest, teilt sie dem späteren Philosophen des Willens zur Macht und Erfinder des Übermenschen mit, das sei »Tüll mit Goldsternen oder Pünktchen«. Das gibt’s nicht in ganz Luzern. Nur er könne hier helfen, und »falls es keinen Tüll«, dann eben » Tarlatane «.
    Auch Mutter und Schwester erfahren, vor welchen Herausfor derungen der Sohn und Bruder steht: … weißen Tüll mit Gold sternen , für das Christkindchen aus Paris … Da hört doch alles auf! 137
    Beim Einkaufen kann man gut nachdenken. Manchmal macht Friedrich Nietzsche beim Nachhausekommen noch Notizen: Die großen Denker des tragischen Zeitalters denken über keine anderen Phänomene nach als die, welche ebenfalls die Kunst erfasst. 138 Oder: Die griechische Welt eine Blüthe des Willens. Wo kamen die auflösenden Elemente her? Aus der Blüthe selbst. Der ungeheure Schönheitssinn, der die Idee der Wahrheit in sich aufsaugte, ließ sie allmählich frei. Die tragische Weltansicht ist der Grenzpunkt: Schönheit und Wahrheit halten sich die Waage. 139
    So kurz vor dem Fest, beladen mit Tüll mit Goldsternen, denkt Friedrich Nietzsche auch über die Natur der Feste nach. Woher haben wir die? Woher hatten sie die Griechen? Und sollte nicht ein Fest der Schlüssel zur Einmaligkeit ihrer Kultur sein? Friedrich Nietzsche kommt zu folgendem Schluss: Feste setzen Triebe voraus: später verstimmen sie durch die Convention und die Gewohnheit, beim Nachlassen der Kraft. Frühlingsfeste als Freiheits- und Gleichheitsfeste, Wiedervereinigung mit der Natur. 140 Was aber wäre dann Weihnachten? Und wann genau beginnt es?
    Aus Tribschen klingt Kritik an seinen Reiseplänen herüber. Was muss Richard Wagner hören, er wolle erst »am Freitag« in Tribschen eintreffen? Das ist schon der Geburtstag des Christkinds selbst. Auch Cosima findet den »Freitag« höchst bedenklich, er solle lieber »etwas früher« kommen und die »Äpfel und Nüsse vergolden helfen« 141 . In dem Fall würde sie ihm auch verraten, was »Iftekhar« ist, welcher soeben eingetroffen sei. Am 19. Dezember folgt noch eine Mahnung des Hausherrn: »Rüsten Sie sich mindestens wie Falstaff zu seinem Kriegszuge. Müssen Sie denn auch gerade erst Freitag um 3 Uhr kommen? – Nun, nun! Ich will nicht zanken. – ›Lobet Gott den Herrn!‹ Besten Gruss! Ihr Richard Wagner« 142 .
    Der Professor bleibt eigensinnig beim Freitag, trifft aber statt um 3 Uhr schon am Vormittag ein und hilft Cosima, das Puppentheater aufzubauen. Oben am Puppentheater bringen sie gemeinsam »Iftekhar« an, den Orden, den der Bey von Tunis Wagner soeben verliehen hatte, ganz aus Blech.
    Sie vergolden die letzten Äpfel und Nüsse.
    Seelenblinde Interpreten, denen Liebe gleich Sexualität ist und der Rest Herrschaft und Knechtschaft, die nichts wissen von Nietzsches Herbstliebe, die ohne Mahnung, ohne Rütteln, in aller Stille niederfällt und beglückt, haben aus alldem Missbrauch eines Akademikers gefolgert. Sie mögen sich ihre Strafe selbst bestimmen.
    Nietzsche erträgt das Banale, das Alltägliche nicht. Auch deshalb war ihm Schopenhauer wie eine Offenbarung gewesen, weil er aussprach, was der damals 21-Jährige längst ahnte: dass die meisten Menschen leben, ohne jemals die Augen aufzuschlagen, luftdicht über sich gestülpt die Alltagshaube aus Trieb, Aberglaube und Konvention, »Fabrikware der Natur« eben. Aber hier in Tribschen war dieser Alltag zugleich Festtag. Schon weil alle Beteiligten sich gleichsam auf schwebendem Grund wissen, im Gefolge des Dionysos, der von

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