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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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Tristan wacht auf. Siegfried wacht auch auf und fängt an zu weinen. Sie wechseln die Zimmer, die Stockwerke, gehen auf »Tristan«-Odyssee durch das ganze Haus, unterbrechen den Text an den unmöglichsten Stellen. Sie sitzen schon in Nietzsches Denkstube, nur um am Ende doch in die Nachbarschaft des Sohnes zurückzukehren. Richard Wagner liest den dritten Aufzug mit gedämpfter Stimme zu Ende, das aufgeweckte Kind tanzt und lacht dazu.
    Am Neujahrstag verlässt Nietzsche Wagner und Cosima. Er dürfe in Zukunft so viel Apfelkörbe umrennen wie er wolle, ruft ihm Cosima per Brief hinterher.
    Es grüßen der Archivarius und die Feuerlilie.

Ludwig van Beethoven,
Symphonie Nr. 7, eigen-
händige Reinschrift der
Partitur, 1812. Wagner,
Cosima und Nietzsche
nannten sie nur die A-Dur-
Symphonie.
    A-Dur-Tage

    Jemand müsste »Siegfrieds Tod« kopieren. Ob er, Friedrich Nietzsche, im großen Basel nicht jemanden wisse, dem man solche Arbeit übergeben könne, in unbedingtem Copyright-Vertrauen? Da Cosima alle Nietzsche-Briefe so behandelt hat wie die Kommunisten den Louvre, dürfen wir die empfangene Antwort nur vermuten.
    Am 18. Juni vermerkt ihr Tagebuch: »Pr. Nietzsche schickt ›Siegfrieds Tod‹ zurück, er hat ihn selbst kopiert!« Er hat ja sonst nichts zu tun. Und nur für einen Kopisten in Basel kann er wirklich bürgen.
    Zwar kann Friedrich Nietzsche seiner schlechten Augen wegen Buchstaben und Noten nicht mehr ganz deutlich erkennen, aber vielleicht ging er bei »Siegfrieds Tod« genauso vor wie Anselmus beim Kopieren der Vorlagen seines Meisters: »Mit dem Abschreiben ging es sehr schnell, indem es ihn immer mehr dünkte, er schreibe nur längst gekannte Züge auf das Pergament hin und dürfe kaum nach dem Original sehen, um alles mit der größten Genauigkeit nachzumalen.« 242
    Cosima ist sich der Dimension der Dienstleistung bewusst, sie schreibt ihren ebenbürtigen Dank noch am gleichen Tag: »Wir besprachen jüngst die wehmütigen Fälle welche intime Beziehungen zu oft umfloren, und die nur, ich glaube wir kamen darüber ein – durch Schweigen zu überstehen sind; wir erwähnten aber die Freundlichkeiten nicht, die gleichsam dem Schweigen unterworfen sind. Ich schreibe Ihnen, geehrtester Herr Professor, um Ihnen dieses Schweigen anzuzeigen, denn wie könnten wir hier danken ohne Etwas zu rügen, das, wir hoffen es ernstlich, einzig bleiben wird, wie es einzig ist! Heute Abend werden wir ›Sokrates und die griechische Tragödie‹ vornehmen; daß, und wie wir uns hierauf freuen, wissen Sie; was Sie vielleicht nicht wissen ist daß wir uns in letzter Zeit eingehend und tief mit allen Ihren Arbeiten, von Homer an bis zur Entstehung des tragischen Gedanken’s, beschäftigt haben. Mir ist Ihre Anschauung der griechischen Dinge zu einem Leitfaden durch eine Welt geworden, die mir wohl auf ewig labyrinthisch unerkenntlich geblieben wäre.« 243 Und was für einen Leitfaden er noch bei sich hat, nein, nicht mehr bei sich, im Augenblick hat ihn schon ein Leipziger Verleger, aber der antwortet nicht. Bei »Sokrates und die Tragödie« handelt es sich nur um einen zweckdienlich isolierten Nebenfaden. Ja, wenn der Leitfaden erst erscheint! Doch schon jetzt vermerkt Cosimas Tagebuch, dass der Professor »jedenfalls der bedeutendste unter unsern Freunden« 244 ist.
    Wie aus Leitfäden Leidfäden werden können, mag ihm selbst noch vollständig verborgen sein, gleichwohl wird es ein männertränenreicher Sommer. Friedrich Nietzsche kann sich in einem Gimmelwalder Hotel nur ans hoteleigene Klavier retten, um einer Melancholie Herr zu werden, die ihn sonst noch schlimmer zugerichtet hätte als die Nachricht vom Brand von Paris. Auch schreibt er ein Gedicht, dessen erste Strophe wir hier mit Rücksicht auf den Autor weglassen und die zweite, dritte, fünfte und sechste auch. Nein, ein Dichter ist er noch nicht. Mag die vierte für ihn Zeugnis ablegen, so gut – gut? – sie kann:
    An die Melancholie

    …
    Du herbe Göttin wilder Felsnatur,
    Du Freundin liebst es nah mir zu erscheinen;
    Du zeigst mir drohend dann des Geyers Spur
    Und der Lawine Lust, mich zu verneinen.
    Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst:
    Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen!
    Verführerisch auf starrem Felsgerüst
    Sehnt sich die Blume dort nach Schmetterlingen.
    …
    Es gibt kein Naturschönes, hatte der dichtende Professor eben noch notiert. Vielleicht hätte er präzisieren sollen: Es gibt kein Naturschönes, das auszudrücken ich schon

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