Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Grundstein galt es dort zu legen, unter dem wir viele Befürchtungen auf immer begraben, durch den wir unsere edelsten Hoffnungen endgültig besiegelt glaubten. Allein, es war nur ein Glaube, und wenn wir auch keineswegs verlernt haben zu hoffen, so gibt doch unser heutiger Hilf- und Mahnruf zu verstehen, daß wir mehr fürchten als hoffen. Ein Hilferuf! Das ist gut, das ist ehrlich, das ist aufrichtig.
Folgt man einem Mahnruf schon aus Selbstachtung ungern, so einem Hilferuf doch umso lieber. Aber schon im nächsten Satz verdirbt der Rhetor alles wieder; die Aufrichtigkeit gehörte noch nie zu den Stärken der Prediger: Unsere Furcht richtet sich gegen euch: ihr möchtet gar nicht wissen, was geschieht und vielleicht gar aus Unwissenheit verhindern, daß etwas geschieht. Man hat Furcht vor etwas. Wenn sie sich gegen etwas richten ließe, wäre sie schon fast keine Furcht mehr; er könnte das wissen. Aber die Furcht ist wichtig, sie war gewissermaßen der Hauptbestandteil der Predigten älteren Typs, und eine solche hält der Patron Friedrich Nietzsche hier durchaus. Keine Bekehrung ohne Furcht. Der Angstmacher fährt fort: Wenn ihr ihn – Richard Wagner, den Kämpfer – jetzt noch hindern würdet, den Schatz auch nur zu heben, den er Willens ist, euch zu schenken: was meint ihr wohl, damit für euch erreicht zu haben? Eben dies muß euch noch einmal und immer wieder öffentlich und eindringlich vorgehalten werden, damit ihr wisset, was an der Zeit sei … Denn von jetzt ab wird das Ausland Zeuge und Richter im Schauspiele sein, das ihr gebt; und in seinem Spiegel werdet ihr ungefähr euer eigenes Bild wiederfinden können, so wie es die gerechte Nachwelt einmal von euch malen wird.
Ist er zufrieden mit sich? Ganz bestimmt sogar, denn er zeigt keine Neigung, aufzuhören oder den Tonfall zu wechseln: Gesetzt, es gelänge euch, durch Unwissenheit, Mißtrauen, Sekretieren, Bespötteln, Verleumden, den Bau auf dem Hügel von Bayreuth zur zwecklosen Ruine zu machen … Wer bitte ist schuld? Der Unterschied zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Strafpredigt scheint Friedrich Nietzsche nicht bewusst zu sein. Erste Regel: Beschimpfe nie die Menschen, von denen du Geld willst! Appelle an die Ehre und Vergleiche mit dem Ausland sind natürlich möglich: Wenn ein Mann in Frankreich oder in England oder in Italien den Theatern fünf Werke eines eigentümlich grossen und mächtigen Stiles geschenkt hätte, die von Norden bis zum Süden unablässig verlangt und bejubelt werden – wenn ein solcher Mann ausriefe: »die bestehenden Theater entsprechen nicht dem Geiste der Nation, sie sind als öffentliche Kunst eine Schande! Helft mir, dem nationalen Geist eine Stätte zu bereiten!« würde ihm nicht alles zu Hilfe kommen und sei es auch nur aus – Ehrgefühl? Aber wie viel mehr wäre zu gewinnen, hier könntet ihr mitfühlen, mitlernen, mitwissen, hier könntet ihr euch aus tiefstem Herzen mitfreuen, indem ihr euch entschlösset, mitzuhelfen. Alle eure Wissenschaften werden von euch freigiebig mit kostspieligen Versuchswerkstätten ausgerüstet: und ihr wollt untätig beiseitestehen, wenn dem wagenden und versuchenden Geiste der deutschen Kunst eine solche Werkstatt aufgebaut werden soll?
Oder sollte am Ende das deutsche Volk noch nicht reif sein für seine Kultur? Doch es muss! Denn ehrwürdig und heilbringend wird der Deutsche anderen Nationen erst dadurch erscheinen, dass er furchtbar ist und doch zugleich durch Anspannung seiner höchsten und edelsten Kunst- und Kulturkräfte vergessen machen will, daß er furchtbar war.
Kurz nach seinem »Mahnruf« trifft auch Friedrich Nietzsche in Bayreuth ein. Richard und Cosima Wagner finden den Aufruf »sehr schön« und fragen: »Wer wird ihn aber unterzeichnen wollen?« 314
Die Delegierten der Wagner-Vereine besichtigen das Theater der Zukunft, bei Dreck, Nebel und Dunkelheit. Kurz bevor sie da waren und bald nachdem sie wieder weg sind, scheint die Sonne vom makellos blauen Himmel.
Im Rathaussaal wird der »Mahnruf« vorgetragen. Er konkurriert unter anderem mit dem Vorschlag, eine Lotterie zugunsten Bayreuths zu veranstalten. Betreten schauen die Delegierten. Klingt das nicht zu ernst? Klingt es nicht zu pessimistisch? Klingt es nicht gar zu vormundschaftlich? Ja, wenn man vorhätte, das deutsche Volk einzusperren, wäre das gewiss eine gute Rede. Aber es soll nicht inhaftiert werden, es soll zahlen. Die Delegierten wollen vom Verfasser wissen, ob er zur Überarbeitung bereit
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