Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
das deutsche Volk, sondern Richard Wagner selbst schuld ist, wenn er scheitert. Mit welcher Kälte blickt er jetzt auf den Freund.
Ist das nicht Verrat? Es ist Verrat.
Ist der Verrat ein Denker? Vielleicht. Aber Kälte ist die Pflicht des Philosophen.
Er nennt, was ihn treibt, Wahrhaftigkeit. Er notiert sorgfältig die Nachteile der Wahrhaftigkeit und findet beunruhigend viele:
Man vernichtet sein Erdenglück.
Man muß den Menschen, die man liebt, feindlich sein.
Man muß die Institutionen, an die man durch Sympathie geknüpft ist, enthüllen und preisgeben. Bayreuth, er hätte es ruhig schreiben können.
Man darf die Individuen nicht schonen und leidet mit ihnen. 320
Und das ist noch längst nicht alles.
Goethe, überlegt er, war ein Maler ohne Hände, und so hätte er auch geschrieben. Schiller war ein versetzter Volksredner, anders seien sein Stücke nicht zu erklären. Und Wagner? Ist ein versetzter Schauspieler.
Es ist traurig, aber für die unsäglich dürftige deutsche Geselligkeit charakteristisch, daß Du Vergnügen am Umgang mit Schauspielern hast. Mir ist es auch so gegangen. Der Heiligenschein der Kunst fällt auch auf ihre unwürdigsten Diener 321 , hatte Nietzsche einem Freund schon vor vier Jahren geschrieben. Nein, gerade von Schauspielern hält er nicht viel. Für ihn sind es Effektemacher. Und geht es nicht auch Wagner um Effekte, um sie vor allem? Er wollte den Effekt des Wortes stärker machen, so fand er zur Musik.
Vielleicht erinnert sich Friedrich Nietzsche, der Erstleser von Richard Wagners Autobiographie, der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte seines ersten Dramas:
Der fünfzehnjährige Richard Wagner hatte seinen Schulbesuch fast vollständig eingestellt und besaß dafür auch eine Rechtfertigung. Er war inzwischen Dramatiker geworden und gerade dabei, sein erstes Hauptwerk zu vollenden. Richard Wagner: »Das Manuskript dieses Dramas ist mir leider abhanden gekommen, doch sehe ich es im Geist noch deutlich vor mir: die Handschrift war im höchsten Grad affektiert; die schräg zurückgebogenen hohen Buchstaben« 322 hatten in seinen Lehrern bereits die Erinnerung an die persische Keilschrift hervorgerufen. Das Drama hieß »Leubald und Adelaide« und war das Ergebnis des Umstands, dass ihm Onkel Adolf Wagner freien Zugang zu seinem Bücherschrank gewährt hatte. Der Dramatiker formuliert das so: Es handele sich um ein Drama, »zu welchem Shakespeare hauptsächlich durch ›Hamlet‹, ›Macbeth‹ und ›Lear‹, Goethe durch ›Götz von Berlichingen‹ beigetragen hatten.« Bald waren in Richard Wagners erstem dramatischen Hauptwerk 42 Tote zu beklagen, und er sah keinen anderen Ausweg, als die meisten als Geister wiederauferstehen zu lassen, schon weil ihm andernfalls Mitspieler für die letzten Akte gefehlt hätten.
Der Fünfzehnjährige setzte alle seine Hoffnung auf Onkel Adolf. Er war der Familienakademiker, hatte bei Fichte und Schelling studiert und glaubte, er sei Hegelianer. So sprach er auch. Da er noch blasser war als seine Bücher, hatte Richard Wagner als kleiner Junge nicht gewusst, ob Onkel Adolf mehr zu den Lebenden oder den Toten gehörte, aber inzwischen traute er niemandem mehr als sich, seinem Drama und dem Onkel, mit dem er sich einig wusste in allen Fragen des Lebens, der Wissenschaft und der Kunst: »Somit übersandte ich ihm das voluminöse Manuskript mit einem ausführlichen Brief, in welchem ich ihm meine Lebenstendenz im Betreff der Nicolai-Schule, … wie ich vermutete, zu seiner großen Freude, mitteilte.« Auch Friedrich Nietzsche kennt Onkel Adolf gut, war er doch bald nach seiner Ankunft in Tribschen mit der Aufgabe betraut worden, Onkel Adolf in Öl zu besorgen, und zwar aus dem Leipziger Brockhaus-Nachlass.
Richard Wagner hat seinen Onkel nie wieder so gesehen wie nach dem Empfang von »Leubald und Adelaide«. All seine akademische Gemessenheit war von ihm abgefallen, als er bei Richards Mutter erschien, um ihr das grenzenlose Unglück zu beichten, als dessen unwissentlichen Mitverursacher er sich bekannte. Richard Wagner verstand die Welt nicht mehr. Er gedachte keinen seiner 42 Toten zu widerrufen. Der Autor stand zu seinem Drama, bis er endlich darauf kam, was »Leubald und Adelaide« fehlte: Musik! »Ich wußte, was noch niemand wissen konnte, nämlich daß mein Werk erst richtig beurteilt werden könnte, wenn es mit der M u s i k versehen sein würde, welche ich dazu zu schreiben beschlossen hatte, und welche ich nächstens auszuführen
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