Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Wagners Witwe mit Gewalt von dem Toten. Er verspricht, sie zu rufen, wenn er mit dem Waschen und Einbalsamieren beginnen würde, und tut es nicht.
»Stelio Effrena, Daniele Glauro, Francesco di Lizo, Baldassare Stampa, Fabio Molza und Atimo della Bella« – zwei von ihnen hatten den ohnmächtigen Richard Wagner im November vom Schiff an das Ufer getragen – »warteten im Vorraum des Palastes. … Sie warteten ohne zu sprechen und sich anzusehen … Man hörte nichts als ein leises Plätschern auf den Stufen vor dem großen Portal … Die Leiche lag … in den gläsernen Sarg eingeschlossen; und daneben, zu seinen Füßen stand die Frau mit dem Gesicht von Schnee. Der zweite Sarg, aus poliertem Metall, stand offen auf dem Fußboden.« 473 Gabriele d’Annunzio beschreibt den Augenblick, als Cosima Wagner zum letzten Mal das Gesicht ihres toten Mannes sieht. Es der 16. Februar, nach ein Uhr am Nachmittag.
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Der Erlöser ist gegangen. Cosima ist wieder aufgestanden, vorläufig, aber Friedrich Nietzsche muss sich ins Bett legen, kaum dass er Rapallo wieder erreicht hat; es ist Alles krank an mir. … Ws Tod hat mir fürchterlich zugesetzt. 474 Er bemerkt auch ein anderes Gefühl in sich, etwas wie ein Leichterwerden? Er könnte auch sagen, er fühlt sich erlöst. Erlöst vom Erlöser. Aber so formuliert er es dann doch nicht. Erleichterung klingt schon hart genug: Es geht schon wieder, und ich glaube sogar, daß der Tod Wagners die wesentliche Erleichterung war, die mir jetzt verschafft werden konnte. Es war hart, sechs Jahre lang Gegner dessen sein zu müssen, den man am meisten verehrt hat, und ich bin nicht grob genug dazu gebaut. 475
Vielleicht löst ihm die große Erschütterung über dieses Ende eines Unendlichen die Zunge, oder er erfährt erst jetzt, wie der teure Tote ihm einst helfen wollte. Vielleicht wirft auch diese Nachricht ihn so nieder. An Köselitz, genannt Peter Gast, wird Nietzsche am 21. April 1883 schreiben: Wagner ist reich an bösen Einfällen, aber was sagen Sie dazu, daß er Briefe darüber gewechselt hat (sogar mit meinen Ärzten) um seine Überzeugung auszudrücken, meine veränderte Denkweise sei die Folge unnatürlicher Ausschweifungen, mit Hindeutung auf Päderastie. 476 Nicht einmal dem nächsten Freund gegenüber kann er sich also ganz offen aussprechen – das Wort Päderastie soll wohl die Absurdität der Anschuldigung betonen, zugleich aber wäre selbst diese Unterstellung noch ehrenhafter, schließlich waren die alten Griechen bekennende Päderasten, und auch Friedrich Nietzsche ist davon überzeugt, dass die Knabenliebe ihnen als die höchste Art der Liebe galt. Doch selbst dann muss er als Motiv Rache nennen, um den Freund nicht etwa zu Reflexionen der Art zu veranlassen: Ja, denken wir doch einmal darüber nach!
Fraglos ist, dass Friedrich Nietzsche sehr allein bleibt mit seinem Wissen, dass er weiß. Er kann sich nicht wehren. Vielleicht hat diese Situation keinen unwesentlichen Anteil an der späteren so sorgsam befestigten Pose des Denkers als Krieger. Wenn wir voraussetzen, dass nichts an diesem Philosophen trivial ist – und wie trivial können gerade Philosophen sein! –, dann hat auch das Selbstporträt als Kämpfer mehrere noch näher zu betrachtende Nenner.
Overbeck, dem unerschütterlichen Freund, wird er schon am 22. Februar von der tödtlichen Beleidigung berichten, die zwischen ihnen stehe, und es hätte furchtbar kommen können, wenn er noch länger gelebt haben würde. 477 Anders als Gast gilt ihm Overbeck, bürgerlich befestigt mit Familie und Professur, nicht als Leidensbruder, nicht als Schicksalsgefährte; die lange Ferne voneinander hat doch leise Abstände geschaffen. Overbeck gegenüber belässt er es bei der Andeutung.
Auch die Wagnerianerin der ersten oder zweiten Stunde Malwida von Meysenbug bekommt zur gleichen Zeit einen Brief von Nietzsche, geschrieben am Tag zuvor.
Auch dieser Brief enthält die Bemerkung, dass Wagner in Gefahr gewesen wäre, hätte er sein Sterben länger hinausgezö gert: …, oh was hätte noch zwischen uns entstehen können. Auch dieser Brief vermerkt die tödtliche Beleidigung, berichtet dann aber nichts von den unteren Regionen, sondern wendet sich Glaubensdingen zu.
Der Brief an Malwida von Meysenbug fand sich 1980 im Nachlass von Romain Rolland, und für Dieter Borchmeyer, der den Dokumentenband »Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung« mitherausgegeben hat, ändert er alles. Und wer das nicht
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