Niewinter 4: Die letzte Grenze
und nickte. Auf Anordnung des Kapitäns rollte er die Karte auf dem Schreibtisch aus, und nun legten die zwei die Route nach Baldurs Tor fest. Über ihnen sah Artemis Entreri fasziniert zu. Er fürchtete, man würde sie so lange von Luskan fernhalten, bis Jarlaxle und Kimmuriel sie am Hafen gebührend in Empfang nehmen konnten.
Andererseits beruhigte ihn, dass Jarlaxle kein Feind von Drizzt Do’Urden war. Was mit ihm zu tun hatte, ging über alle Befürchtungen oder jeglichen alten Groll hinaus, den der Drow gegen eine Randgestalt wie Artemis Entreri hegen mochte.
Erst kurz vor Sonnenuntergang konnte Entreri sich wieder aus der Kapitänskajüte schleichen. So hatte er viele Stunden Zeit zum Nachdenken. Er entschied sich, seine Informationen für sich zu behalten.
Wenn Bregan D’aerthe ihnen in Luskan auflauerte, würde er bestimmt nicht dabei sein, aber wenn es um etwas anderes ging … Vielleicht hätte er dann die Chance, Jarlaxle seinen Verrat heimzuzahlen, und dieses Risiko wollte er gern eingehen. Wann immer er an Jarlaxle dachte, glitt seine Hand zu dem juwelenbesetzten Dolch an seinem Gürtel, und er malte sich aus, wie wunderbar es wäre, den Drow seiner schwarzen Seele zu berauben.
Kapitel 11
Ein dunkler Raum, ein dunkles Geheimnis
Effron spazierte durch den ausgedehnten Hafen von Baldurs Tor, was ihm nach über einem Monat mittlerweile zur allmorgendlichen Gewohnheit geworden war. Er wusste nicht mehr weiter. Das Schiff hätte längst einlaufen müssen. Tag für Tag kam er hierher, und jeden Tag fragte er jeden greifbaren Hafenarbeiter, ob er kurz mit ihm reden könnte.
Nichts.
Keinerlei Nachricht von der Elritze, und beim Blick auf das endlose dunkle Wasser, das an diesem regnerischen Tag vor ihm wogte, lag die Vorstellung nahe, dass das Schiff dem ungastlichen Gestade der Schwertküste zum Opfer gefallen war. An diesem besonders trüben Morgen war sich der Zauberer dessen ziemlich sicher.
Wahrscheinlich hatte der Ozean sie verschlungen, samt der ganzen Besatzung. Oder die Seeteufel oder ein großer Hai, ein Wal oder gar ein Krake hatten ihr den Rumpf aufgerissen und das Schiff in die Tiefe gezogen, um sich alle Lebenden darauf einzuverleiben.
Wenn das stimmte, war seine Mutter tot, und sein Lebensziel hatte sich abrupt in nichts aufgelöst.
Vielleicht lag seine schlechte Laune aber auch am Wetter und hatte keinerlei vernünftigen Grund. Die Luft war an diesem Tag drückend, obwohl schon beinahe Sommer herrschte.
Diesen oberflächlichen Gedanken unterdrückte Effron. Das Wetter war zwar wenig hilfreich, aber das Ende kam keineswegs so unvermittelt, wie es den Anschein hatte. An diesem Morgen bestätigte sich nur, was er schon lange befürchtet hatte. Seit zwei Zehntagen rang Effron nun bereits mit dem nagenden Gefühl, dass sie tot waren, vom Meer verschluckt, und dass der Sinn des Lebens – sein persönlicher Sinn des Lebens – sich dramatisch ändern würde.
Er hatte sie tot sehen wollen. Von seiner Hand.
Jetzt war er verwaist. Sein Ziel war vollbracht, aber plötzlich schmeckte es nicht mehr so süß.
»Verdammt sollst du sein«, flüsterte er, während er an der dicken Kaimauer der eindrucksvollen Hafenstadt entlanglief. Mehr sagte er nicht und befragte auch nicht erneut die Arbeiter, ob sie etwas von der Elritze gehört hätten.
Es hatte keinen Sinn.
Vielleicht war überhaupt alles sinnlos, befürchtete er, genauso fruchtlos, wie im Hafen von Baldurs Tor unsinnige Fragen zu stellen.
Während er langsam weiterging, pendelte der lahme Arm hinter seinem Rücken hin und her. In seinen Augen stand mehr als die Feuchtigkeit dieses schwülen Regentags.
Er hatte sich so viele Jahre bemüht, seinem Vater zu beweisen, was er wert war. Mit der zerschmetterten Schulter, dem nutzlosen Arm und einem Dutzend anderer, weniger entstellender Gebrechen, die seinem empfindlichen Körper zusetzten, konnte er natürlich nie der Krieger werden, von dem sein Vater geträumt hatte. Dennoch hatte er es versucht, jeden Tag und auf jede erdenkliche Weise. Gab es im Schattenreich einen zweiten Hexer seines Alters, der auch nur annähernd über seine Fähigkeiten verfügte? Angeblich war selbst Draygo Quick bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr nicht so fortgeschritten gewesen wie Effron, und der war gegenwärtig gerade mal halb so alt.
Er hatte Mut und Disziplin bewiesen, wovon selbst die Fürsten von Nesseril gelegentlich Notiz genommen hatten.
Hatte all das Erzgo Alegni mit Stolz erfüllt?
Effron
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