Niewinter 4: Die letzte Grenze
lieber Schiffe auszuplündern?
Oder war es so, wie er selbst angedeutet hatte, wenn auch nur, um Drizzt zu provozieren: eine Ablenkungstaktik, um die fähigsten Kämpfer aus Letzthafen abzuziehen, damit Luskan die Stadt leichter angreifen konnte?
Diese Variante hätte ihm wenig ausgemacht – was ihn jedoch störte, war die Ungewissheit. In Calimhafen hatte Artemis Entreri als Straßenkind überlebt, und dieses Wissen hatte ihm auch als Erwachsener geholfen, weil sein instinktives Verständnis für andere in Kombination mit seinen wachen Sinnen, die unablässig Informationen sammelten, ihm einen nicht zu unterschätzenden Vorteil verschaffte.
Jetzt kam es ihm vor, als hätte er diesen Vorteil zugunsten von Drizzt verspielt, nur damit der Drow sein Abkommen bekam. Deshalb kehrte Entreri nicht in seine Hängematte und nicht einmal in den Laderaum zurück, obwohl er anfangs hinuntergestiegen war, um unter den anderen Seeleuten nicht aufzufallen. Danach hatte er sich auf einem zuvor ausgetüftelten Weg wieder nach oben geschlichen, sich kurz umgesehen und war dann in die Kapitänskajüte auf dem Achterdeck eingedrungen. Das lächerliche Schloss hatte ihn dabei kaum aufhalten können.
Die dort hängenden Netze und die zahlreichen Trophäen und Dekorationen boten dem erfahrenen Auftragsmörder ausreichend Versteckmöglichkeiten.
Danach wartete er mit der Geduld, die für seine Erfolge in Calimhafen und anderswo ausschlaggebend gewesen war. Er wusste, dass der Kapitän an Deck bleiben würde, bis sie Luskan und die vielen Klippen und Untiefen entlang der Küste weit hinter sich gelassen hatten.
Doch kaum war er an Ort und Stelle, da öffnete sich die Kajütentür, und herein kam nicht der Kapitän, sondern der Erste Offizier. Dieser Mann, der offenbar Ork-Blut in sich hatte, war mit seinem struppigen grauschwarzen Bart ein echter alter Seebär. Sein Gesicht erinnerte Entreri an die aufgesprungene, tief zerfurchte Tundra der Blutsteinlande im Hochsommer, und seine dürren Beine waren so krumm, dass er wohl von hinten auf ein Pony aufsitzen konnte, ohne auch nur ein Bein anzuheben. Eines seiner Augen war blind: ein weit geöffneter Augapfel, über den sich ein dichter grauer Film zog. Alles an ihm verriet den Seemann, der zu viele Wellen und leichte Mädchen erlebt hatte, denn er grummelte und fluchte bei jedem Schritt vor sich hin, während er zum Schreibtisch ging.
»Nehmt sie mit. Sie sollen euch beschützen«, äffte er erbost eine Stimme nach, die Entreri nicht kannte. »Aye, und vor was, bitte schön? Vor den bösen Buben im Hafen von Baldurs Tor? Nutzlose Landratten, die ganze Bande, und wenn die Zwergin nicht wenigstens rollig ist, dann schmeiß ich das kleine Biest glatt über Bord!«
Er wühlte in ein paar Papieren herum, bis er eine bestimmte Seekarte gefunden hatte, die er zusammenrollte und unter den Arm klemmte, um mit schaukelnden Schritten wieder abzuziehen. Als er kurz vor der Tür war, trat Kapitän Andray Cannavara ein und schloss diese hinter sich.
»Man hat dich an Deck gehört, Sikkal«, sagte der Kapitän. Er versuchte, dabei hoheitsvoll zu klingen und auch so auszusehen, was ihm jedoch beides misslang. Cannavara trug eine kurze, moderne Uniform mit Rockschößen und einen großen dreieckigen Hut mit Feder, den er offenbar einem anderen Mann abgenommen hatte, weil er für seinen gewaltigen Kopf sichtlich zu klein war, besonders angesichts seines ebenso gewaltigen Haarwusts. Auf einer Seite hatte er den Hut eingeschnitten, damit er etwas besser saß, aber dieser Versuch hatte leider das Hutband in Mitleidenschaft gezogen, so dass der Hut nun bei jeder Bewegung wieder weit nach oben rutschte und dann lächerlich hoch auf seinem filzigen Haar thronte.
»Willst du die Moral meiner Besatzung senken, noch ehe wir den Hafen hinter uns haben, Mann?«, fragte er. »Wenn ja, dann sag Bescheid, bevor wir so weit draußen sind, dass du nicht mehr an Land schwimmen kannst.«
Der knurrige Erste Offizier schlug die Augen nieder und erwiderte respektvoll: »Pardon, Kapitän.«
»Dein letztes Pardon, Sikkal.«
»Aye, Kapitän, aber spreche ich nicht bloß aus, was alle denken?«, erwiderte er. Jetzt wagte er aufzublicken. »Fünf Landratten.«
»Fünf hervorragende Krieger.«
»Aye, aber Drizzit Dudden ist kein Freund von Luskan, ganz gleich, was Kapitän Kurth behauptet.«
»Das Wasser ist kalt«, drohte Cannavara ungerührt.
»Dann bitte ich nochmals um Pardon – oder um ein längeres.«
Der
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