Niewinter 4: Die letzte Grenze
»Er weiß es, aber er versteht es nicht«, sagte sie und ließ dabei mehr Gefühl durchschimmern. »Wie auch? Wie könnte es irgendjemand sehen, der nichts Derartiges hinter sich hat?«
Offenbar waren Entreri die schnippischen Antworten ausgegangen. Er saß nur mit verschränkten Armen da, murmelte aber immerhin »Menzoberranzan?« zur Antwort auf Dahlias Frage.
Sie prostete ihm noch einmal zu, und zu ihrer Überraschung reagierte er diesmal sofort. Er trank so viel, dass sie zur Flasche griff und beide Gläser nachfüllte.
Ihre Anspielung auf die dunkle Vergangenheit hatte bei Entreri etwas zum Klingen gebracht, das wusste sie.
»Hast du je geliebt?«, fragte sie. In ihrer Stimme lag mehr Traurigkeit als Zorn.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er.
»Die Wahrheit!«, zischte Dahlia und beugte sich vor. Sie stand auf und nahm neben Entreri Platz. »Die Wahrheit«, wiederholte sie etwas ruhiger. »Du weißt es nicht, weil du nicht sicher sein kannst. Weil du nicht sicher bist, was dieses Wort überhaupt bedeutet.«
»Liebst du Drizzt?«, fragte er.
Die Frage überraschte sie, und sie platzte mit einem »Nein!« heraus, bevor sie darüber nachdachte.
Denn Dahlia war nicht gekommen, um über derartige Dinge nachzudenken. Sie spielten keine Rolle. Dahlia war hier, um eine Entwicklung in Gang zu setzen, die genau da enden würde, wo sie hin wollte. Und Artemis Entreri würde sie wie ein braver Hengst genau dorthin bringen.
»Es bietet sich gerade so an«, erklärte sie.
Bei diesen Worten wurde Entreris Lächeln breiter. Noch einmal leerte er sein Glas, und dieses Mal goss er sich selbst neuen Wein ein. »Weiß Drizzt das?«, fragte er dabei.
»Wenn ich wirklich wissen wollte, was er über die Liebe weiß und was nicht, könnte ich vermutlich über nichts anderes mehr nachdenken. Aber es kümmert mich kaum. Er versteht weder, wer ich wirklich bin, noch, wo ich herkomme – wie tief kann seine Liebe also schon sein?« Sie rückte näher an Entreri heran, bis ihre Gesichter ganz dicht beieinander waren, und bat: »Erzähl mir von früher, von euch beiden.«
Er zögerte, aber seine Arme waren nicht mehr verschränkt.
Dahlia ermahnte sich zu Geduld. Sie erkannte die Wahrheit: Entreri wurde von Erinnerungen gequält, die er noch nie preisgegeben hatte, doch all seine Selbstdisziplin als Krieger hatte jene dunklen Zeiten nicht so weit hinter ihm gelassen, wie er es gern hätte.
Sie sah seine Verletzlichkeit, und wegen ihrer eigenen Geschichte und weil sie längst die Wahrheit über sich wusste, war ihr klar, wie sie diese Verletzlichkeit zu ihrem Vorteil nutzen konnte.
»Weißt du, warum ich diese Klunker am Ohr trage?«, fragte sie.
Neugierig musterte Entreri ihre Diamanten, die vielen hellen am linken Ohr und den einsamen schwarzen Stecker am rechten Ohrläppchen.
»Ehemalige Liebhaber«, sagte sie und tippte an das linke Ohr.
»Und der aktuelle rechts.« Entreri grinste. »Ein schwarzer Diamant für einen Drow, ich sehe schon.«
»Ich hoffe, es sieht nicht zu hässlich aus, wenn ich ihn zu den anderen nach links rübersetze«, sagte sie.
Entreri lachte nur.
Sie griff zum Wein. »Wirst du mir zuhören?«, flüsterte Dahlia.
»Ich glaube, das meiste weiß ich schon.«
Sie blickte sich um. »Nicht hier«, sagte sie. »Ich kann das nicht.« Sie schob den Stuhl zurück, stand auf und kippte erst ihren Wein herunter, dann den von Entreri. Danach nahm sie beide Flaschen und die Gläser und sah den Mann flehentlich an. »Ich muss es jemandem erzählen«, erklärte sie. »Alles. Das habe ich noch nie getan. Ohne das werde ich wohl niemals frei sein.«
Sie warf einen Blick zur Treppe, die zu den Schlafräumen führte, dann wieder zu Entreri, der sich zu ihrer angenehmen Überraschung erhob. Unterwegs besorgte er an der Bar noch zwei weitere Flaschen Wein.
Dahlia saß in ihrem eigenen Netz gefangen, erkannte sie, sobald sie sein Zimmer erreicht hatten, aber es machte ihr nichts aus. Deshalb erzählte sie ihm die ganze Geschichte: von ihrem Ausflug zum Fluss, damals vor langer Zeit, als sie Wasser holen sollte, bis zu ihrer Rückkehr in das kleine Dorf ihres Clans, über das die Shadovar hergefallen waren.
Mit Tränen in den Augen berichtete sie, wie Alegni ihr Gewalt angetan hatte, und vom Mord an ihrer Mutter.
Sie tranken und redeten, und schließlich begann sie, Entreri auszuhorchen, und jetzt war er an der Reihe. Er erzählte Dahlia, wie seine eigene Mutter ihn verraten, wie man ihn als Sklave verkauft
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