Night Academy 2
der Hand. In den vergangenen Wochen hatte ihre harte Schale Risse bekommen, zumindest kam es mir so vor. »Ich würde gern mit dir das Zimmer teilen. Aber dann darfst du mir nicht immer den Schreibtisch durcheinanderbringen und die besten Stifte klauen.«
Ich lächelte. Einen Moment lang sah sie mich nur an, dann breitete sich auch auf ihrem Gesicht ein Lächeln aus.
Im Laufe der nächsten Woche verbrachte ich viel Zeit mit Hennie, Esther und Catherine, und auf einmal hatte ich überhaupt nicht mehr das Gefühl, allein zu sein, ganz im Gegenteil. Mit Allie ging ich joggen, mit Hector und Alessandro hing ich nach dem Essen ab. Natürlich konnten auch die meine Probleme nicht lösen. Ich würde mich an ein Leben ohne Cam gewöhnen müssen. Auch wenn mir die Trennung – oder was immer wir da veranstalteten – sehr wehtat, wusste ich, dass sie nötig war. Denn solange wir zusammen waren, konnte ich mir kein eigenes Urteil über die Night Academy bilden, immer hatte ich Angst, ihm in den Rücken zu fallen. Ohne ihn sah ich viel klarer. Irgendetwas war faul am Programm. Womöglich waren die Irin wirklich gefährlich, aber wenn Jack die Wahrheit sagte, dann versuchte irgendjemand, sie noch schlimmer darzustellen, als sie tatsächlich waren – jemand, der mit jedem Anschlag der Irin und dem darauffolgenden Ratsbeschluss, die Zahl der Wächter noch weiter zu erhöhen, immer mächtiger wurde.
Und ich musste nicht groß überlegen, um zu ahnen, wer dieser Jemand sein könnte.
Montagmorgen fuhr Oma mich zur Schule. Sie sah nicht gut aus – ihre Augen tränten noch mehr als sonst, und ständig musste sie sie mit einem Taschentuch trocken tupfen. Nicht einmal Make-up hatte sie aufgelegt, und auf ihren Ton-in-Ton-Trainingsanzug hatte sie auch verzichtet, doch wie immer bestand sie darauf, auszusteigen und mich zum Abschied zu drücken.
»Geht es dir nicht gut, Oma?«, fragte ich besorgt. »Du bist doch nicht krank, oder?«
»Nein.« Sie hielt mein Gesicht in den Händen und sah mir tief in die Augen. Dann nahm sie mich fest in den Arm. »Du bist stark«, sagte sie an meinem Brustkorb. »Du schaffst das schon.«
Ich rückte etwas von ihr ab. »Oma, wovon redest du überhaupt? Natürlich schaffe ich das. Wir wollen ja nicht den Mount Everest besteigen, sondern nur ein bisschen Kajak fahren.«
Sie lachte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Ich bin stolz auf dich«, sagte sie. »Vergiss das nicht.«
Esther rief quer über den Parkplatz nach mir. Ich schaute zu ihr und dann wieder zu Oma. »Bist du wirklich nicht krank? Wenn es dir nicht gut geht, bleibe ich zu Hause. Macht mir gar nichts aus.«
Oma schob mich von sich. »Natürlich bin ich krank, ich bin schließlich achtundsiebzig. Aber diese Woche werde ich noch nicht abnibbeln, und bilde dir ja nicht ein, dass du dich vor dem Ausflug drücken kannst, nur weil ich auf meine alten Tage etwas rührselig geworden bin. Jetzt ab mit dir in den Bus.«
Daraufhin watschelte sie in ihren orthopädischen Schuhen zurück zum Wagen und brauste davon. Ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Mit einem unguten Gefühl schulterte ich meinen Rucksack und lief über den Parkplatz.
Wir fuhren mit der Silberkugel und einem gemieteten gelben Bus nach Anacortes. Hennie, Esther und ich hatten hinten im Bus unseren Spaß, sangen dämliche Lieder wie »Ninety-nine Bottles of Beer on the Wall« und bewarfen Hector und Alessandro mit Kräckern. Fürs Zelten waren wir alle zünftig gekleidet. Esther hatte sich ein Stirnband um den Kopf gebunden, Hennie trug säuberlich gebügelte Khaki-Shorts, und ich hatte meine widerspenstigen Locken zu zwei Zöpfen geflochten. Catherine saß eine Reihe vor uns, und hin und wieder stimmte sie zu meiner Überraschung in unseren albernen Gesang ein. Cam fuhr mit Anna und Trevor im anderen Bus. Am Morgen hatte er mich nur mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis genommen. Wahrscheinlich konnte ich im Moment nicht mehr von ihm erwarten.
In Anacortes fuhren die Busse auf die Fähre nach Lopez Island. Die Fähre sah aus wie ein Kreuzfahrtschiff, jedenfalls für mich: riesig, weiß, mit großen Bullaugen und breiten Seitendecks. Doch im Gegensatz zu einem Kreuzfahrtschiff gab es hier ein geräumiges Parkdeck, auf dem die Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange standen, und von dem aus man über Metalltreppen auf die vier Aussichtsdecks gelangte. Von der Abfahrt bekamen wir nicht viel mit, da wir im Bus bleiben mussten, aber ich spürte den Ruck und hörte
Weitere Kostenlose Bücher