Nightshifted
Testament â sie hinterlässt ihrem Bruder ihre Couch
und ihre überschaubare CD -Sammlung.« Ich rollte mit den Augen, fischte am
Schlüsselbund nach dem Hausschlüssel und ging zur Tür.
Sobald ich die Wohnung betreten hatte, überfiel mich
der CD -Player mit einer
deutschen Schimpftirade. Er war fast so schlimm wie Minnie.
»Tut mir leid, aber er ist nun mal mein Bruder«,
versuchte ich zu erklären. »Ich weiÃ, mich kotzt das ja auch an.« Das Lämpchen
wechselte von rot zu grün, dann schaltete er sich ab, entweder um schmollend zu
schweigen oder aus Erschöpfung.
Kaum hatte ich meine Schuhe abgestreift und den
Mantel aufgehängt, als ich ein Klopfen an der Tür hörte. »Ich bin immer noch
wütend auf dich, Jake!«, brüllte ich, während ich durch den kurzen Flur
marschierte. Doch als ich durch den Türspion schaute, entdeckte ich Ti, dessen
Narben aus dieser Perspektive hundertmal gröÃer zu sein schienen, wie die
Falten in einem ungemachten Bett.
»Moment noch«, rief ich, während ich die diversen
Sicherheitsriegel öffnete. »Hi, komm doch rein.« Ich drückte mich an die Wand,
damit er an mir vorbeigehen konnte. Er schob sich durch die Tür und schaffte es
sogar, mich dabei nicht zu berühren, was bei seiner Schulterbreite echt
erstaunlich war.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte er,
als er sich in dem engen Flur zu mir umdrehte.
Ich winkte ab. »Nur ein Patient von letzter Nacht.
Will nicht drüber reden.«
Er zuckte kurz mit den Schultern und ging dann zu
meiner Couch â dem einzigen Möbelstück, das in meinem Wohnzimmer noch übrig
war. Dort wartete er dann, bis ich ihm gefolgt war und mich gesetzt hatte,
bevor er mit übertrieben groÃem Abstand zu mir Platz nahm. Ich schaute ihn an.
»Was habe ich diesmal falsch gemacht?«
Er blinzelte überrascht. »Du bist ganz schön direkt.«
»Ich habe nur noch zwei Tage zu leben.«
Einen Moment lang starrte Ti angestrengt auf seine
Knie. »Ich bin zur Siebzehnten StraÃe runtergegangen â¦Â«, setzte er an, und vor
meinem inneren Auge tauchte kurz das Bild von sinnlichen Nutten auf. »Und als
ich hierher zurückkam, habe ich gesehen, wie ein Mann in deine Wohnung gegangen
ist.« Als er zu mir hochschaute, war in seinen goldenen Augen eindeutig Schmerz
zu erkennen.
»Wirklich?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich bin mir nicht sicher, was peinlicher für dich ist: Dass du leichte
Tendenzen zum Stalker hast oder dass du annimmst, ich hätte was mit meinem
eigenen Bruder.«
»Oohhhh â¦Â« Seine Schultern entspannten sich, und er
schüttelte den Kopf, wohl über sich selbst.
»Jetzt mal im Ernst: Frag mich doch einfach.« Ich
rutschte über die Couch zu ihm rüber. »Selbst wenn mir nicht die Zeit
davonliefe: Ich spiele keine Spielchen. Habe ich nie und werde ich nie.« Es sei
denn, du wärst mein Bruder, der Junkie, ergänzte ich in Gedanken. »Wie lange
hast du denn da drauÃen gestanden?«
Er atmete hörbar aus. »Seit vier Uhr heute Morgen.«
»Dummer Zombie.« Ich gab ihm einen Klaps auf den
Unterarm.
»Jetzt komme ich mir blöd vor«, meinte er.
»Gut so.« Im Moment fand ich es eher süà als
stalkermäÃig. Es schien ihm wirklich peinlich zu sein. »Lass es nur nicht zur
Gewohnheit werden, okay?«
»Geht klar.« Sein Gesicht verzog sich zu einem
Grinsen, genau wie meins.
»Und â was war jetzt mit den Mädchen?«
»Eigentlich konnte ich gar nicht mit ihnen sprechen.«
Jetzt war ich wohl diejenige, die erleichtert war,
zumindest ein kleines bisschen. »Oh? Warum denn nicht?«
»Sie waren nicht da.«
»Du bist doch sicher nicht zu spät gekommen?« Ich
stellte mir stattdessen vor, wie er versuchte, mit einer von ihnen zu reden,
einem Mädchen, das abgesehen von seinem Beruf völlig normal war, und wie sie
völlig verängstigt vor ihm wegrannte, als wäre er Frankensteins Monster und sie
gerade ohne wütenden Mob unterwegs.
»Sozusagen«, antwortete Ti mit ernster Stimme.
Plötzlich wurde mir klar, was er meinte. »O nein. Was
ist passiert?«
»Sie sind alle verschwunden. Ich nehme an, dass sie
tot sind.« Er starrte auf seine Hände, die er im Schoà verschränkt hatte.
»Woher willst du denn wissen, dass sie tot
Weitere Kostenlose Bücher