Nightshifted
hatte,
erst dann schnalzte ich mahnend mit der Zunge. »Ich bin deine Schwester,
natürlich interessiert es mich.«
Er starrte lange in seine Tasse, bevor er antwortete:
»Ich weià nicht, wer. Aber ich glaube, ich weiÃ, wo. Im Depot.«
Das war der Name eines groÃen Obdachlosenheims in der
Innenstadt, in dem man ein Bett und eine warme Mahlzeit bekam, wenn man sich
nur lange genug anstellte und keinen Ãrger machte. Dort hatte auch Mr. Galeman
geschlafen, bevor er Anna begegnet war. Jake fuhr fort: »Bei denen hat der
Besitzer oder Treuhänder oder wer auch immer den Laden leitet gewechselt.
Früher gingâs da total locker zu, jetzt ist es fast wie beim Militär.«
Da ich gehört hatte, wie die Schwestern aus der
Notaufnahme sich darüber beklagt hatten, wusste ich, dass der finanzielle
Abschwung des Bezirks in letzter Zeit auch Auswirkungen auf die Obdachlosen in
der Stadt hatte. »Und wie sollten sie das anstellen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht über das Essen? Und sie
haben jetzt dieses Spritzentausch-Programm, da könnten sie vorher doch Naloxon
reintun â¦Â«
»Sei kein Idiot, Jake.« Mit einem lauten Klappern
legte ich meine Gabel auf den Teller. »Herrgott noch mal, wenn du saubere
Nadeln brauchst, werde ich dir welche besorgen«, hörte ich mich plötzlich
sagen. Jake schien meine Vehemenz genauso zu überraschen wie mich selbst. Aber
auch wenn ich das Angebot jetzt aufrechterhielt â was wäre in gerade mal zwei
kurzen Tagen? Ich streckte die Hand aus, nahm seinen Becher und trank einen
Schluck von seinem Kaffee. Er verbrannte mir den Gaumen und schmerzte in meiner
Kehle.
»Sissy â¦Â«
In diesem Moment hätte ich ihm am liebsten alles
erzählt. Alles, von Anfang an. Von der Scheidung unserer Eltern bis zu dem
Punkt, als meine Mom ihn zum ersten Mal rausgeschmissen hatte. Gras, LSD und Ecstasy konnte ich
ihm verzeihen â Teenager spielten ständig mit diesem Zeug rum und kamen
trotzdem klar. Aber der Moment, dieses allererste Mal, als ich die
Einstichwunden an seinem Arm gesehen hatte, bis meine Mom ihn dann endgültig
hatte rauswerfen müssen, trotz meiner lautstarken, tränenreichen Proteste ⦠und
jetzt saà ich hier, in dieser Falle, und versuchte wieder einmal, ihn vor sich
selbst zu retten.
Ich stand auf. Meine Augen brannten. »Ich komme
gleich wieder.«
Fast rennend stürmte ich in die Toilette. Ich ballte
die Fäuste, um nicht schwach zu werden. Eigentlich sollte ich ihm wirklich
alles erzählen, die gesamte Geschichte.
Aber was dann? Dann läuft das Ganze schief, ich
sterbe in zwei Tagen, und er muss mit diesem Wissen leben. Für immer.
Ich hatte mir das selbst eingebrockt. Es war verdammt
noch mal nicht allein meine Schuld, aber ich hatte es selbst so entschieden.
Ich hätte ihn ignorieren können. Oder es mit Liebesentzug versuchen können. Mit
ruckartigen Bewegungen wusch ich mir das Gesicht und musterte mich dann im
Spiegel.
»Das hast du dir selbst angetan, Edie«, erklärte ich
meinem Spiegelbild. »Du kannst die Schuld nicht auf ihn abwälzen.«
Er hatte ein Recht darauf, zu erfahren, dass seine
erzwungene Nüchternheit in zwei Tagen eventuell abrupt aussetzen würde. Aber
das war auch schon alles. Nichts über das Wie oder das Warum. Aber das Wann?
Ja, das schon.
Als ich mit schweren Schritten zu meinem halb
gegessenen Frühstück zurückkehrte, war der Tisch leer.
»Beim nächsten Mal zahle ich«, hatte Jake in seiner
ordentlichen Schrift auf die Rechnung geschrieben, direkt unter das »Danke!«
der Kellnerin, das sogar mit einem Smiley versehen war. Meine Autoschlüssel
lagen auf meiner Handtasche.
»Verdammt, Jake«, murmelte ich leise und schaute mich
um. Unsere Kellnerin wirkte angespannt, so als hätte sie erwartet, dass wir die
Zeche prellen würden. Als sie registrierte, dass ich es bemerkt hatte, warf sie
mir ein nervöses Lächeln zu. Ich zog ein paar Scheine aus meinem Portemonnaie
und lieà ihr ein groÃzügiges Trinkgeld da.
Ich konnte es ja sowieso nicht mit rübernehmen.
Kapitel 40
Â
Ich fuhr nach Hause und
stellte mein Auto auf den üblichen Parkplatz. Dann blieb ich noch einen Moment
sitzen und überlegte, ob ich Jake einfach ein offizielles Schreiben
hinterlassen und so einer Konfrontation völlig aus dem Weg gehen könnte. »Edie
Spences Letzter Wille und
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