Nightshifted
bist nicht zufällig auch noch telepathisch
veranlagt, oder?« Ich löste mich von ihm und schaute zu ihm hoch.
»Nein.« Er hob sanft mein Kinn an, sodass ich fest
mit einem Kuss rechnete.
»Du blutest«, sagte er stattdessen.
Ich fuhr mit der Zunge über die Innenseite meiner
Lippe. »Stimmt. Schon wieder.«
Ti strich mit dem Daumen über meine Unterlippe und
leckte ihn ab, bevor er mich hochhob und in mein Bett trug.
Kapitel 42
Â
Runde zwei hatte dann
schon eher etwas mit Liebe machen zu tun.
Ich glaube nicht, dass
ich vorher schon einmal richtig Liebe gemacht habe. Es war seltsam und schön,
mit furchtbar viel Blickkontakt, und alles fühlte sich wesentlich bedeutsamer
an, als es eigentlich sollte. Ich fragte mich, ob ich nun diesen Zustand
absoluter Klarheit erreicht hatte, in den manche Patienten im Krankenhaus
verfielen, wenn sie wussten, dass sie sterben würden, wenn die Geisterwelt und
die Realität sich irgendwie überschnitten. Sie bekamen dann Besuche aus der
Vergangenheit und Informationen über die fremdartige, neue Zukunft, die vor
ihnen lag. Für solche Leute waren Sonnenaufgänge, Sonnenuntergänge, das
fallende Laub und der Nebel in der Morgendämmerung höchst symbolträchtig. Wenn
man bei ihnen im Zimmer war, konnte es manchmal verdammt kitschig werden, wenn
man ihnen und ihren Verwandten dabei zuhörte, wie sie aus etwas völlig
Bedeutungslosem Magie machen wollten.
Aber jetzt verstand ich das vielleicht â denn jedes
Mal, wenn Ti zustieà oder sich aus mir zurückzog, fühlte es sich an wie ein
Trommelschlag oder ein Herzschlag, der wesentlich tiefer nachhallte, als er
eigentlich sollte: eindringen â wir leben noch; zurückziehen â wir werden bald
sterben. Und dann ging es immer schneller und schneller, und Leben und Tod
vermischten sich in der Spannung unserer Leidenschaft, irgendwann schrie er auf
und stieà tief in mich hinein, Leben, Leben, Leben, woraufhin ich mich um ihn
schloss, ihn noch tiefer in mich hineinzog, alles nahm, was er mir geben
konnte. Keuchend lag er auf mir, und ich biss ihn sanft in die Schulter,
einfach, weil ich es konnte.
Als er sich von mir heruntergerollt hatte, ging ich
aus dem Schlafzimmer, drehte den Thermostat voll auf und kam mit einer zweiten
Bettdecke zurück, um mich sofort wieder an ihn zu kuscheln. »Erzähl mir alles.«
»Was meinst du?«
»Ãber dich. Alles, alles, alles.«
Er stützte sich auf einen Ellbogen. »Warum?«
»Einfach so. Ich will nicht alleine sterben.« Ich
löste mich von ihm und sah ihn an. Wenn ich mit dem rechten Auge schnell
blinzelte, konnte ich ihn wie einen warmen, gelben Lichtfleck neben mir sehen.
»Mein ganzes Leben lang war ich schlecht darin, Kontakte zu knüpfen. Es gab
mich und meinen Bruder, klar, aber ansonsten? Eigentlich war da niemand sonst.
Und an den meisten Tagen zählt mein Bruder auch nicht wirklich. Bei der Arbeit
komme ich ganz gut klar, aber niemand steht mir wirklich nahe. Während der
Ausbildung war ich richtig einsam, bis auf die wenigen Male, als ich mich um
Patienten gekümmert habe, denn die waren ja immer froh, mich zu sehen,
verstehst du? Entweder rede ich zu viel, oder ich gebe zu viel preis, das
verschreckt die Leute, und ich bin mir nicht sicher, was ich dagegen tun kann.«
Als ich zu ihm hochschaute, bemerkte ich, dass seine Miene sich leicht
verfinstert hatte. »So wie jetzt.«
Ti nickte. Ich beschloss, alles auf eine Karte zu
setzen. »Und ich will nicht allein sterben. Ich will, dass am Ende jemand bei
mir ist, den ich kenne und der mich kennt. Das ist doch nicht zu viel verlangt.
Zumindest hoffe ich das.«
»Du wirst nicht sterben, Edie â¦Â«
Ich schüttelte den Kopf. »Antworten. Alles. Jetzt.«
»WeiÃt du, einiges davon wird dir vielleicht nicht
gefallen. Und wenn ich erst mal anfange zu reden, werde ich nichts beschönigen
oder lügen, das muss klar sein.«
»Damit komme ich klar.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Zuallererst: Ich bin
verheiratet.«
Mein Magen verkrampfte sich, aber ich sorgte dafür,
dass mein Gesicht ausdruckslos blieb. »Weiter.«
»Sie war perfekt, absolut perfekt.« Er setzte sich
auf, vielleicht, damit er mir nicht in die Augen sehen musste, und starrte an
die Decke.
»War?«, hakte ich nach. »Du hast doch nicht â¦Â«
Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie er
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