Niki de Saint Phalle - Die Lebensgeschichte (optimiert für Tablet-Computer)
plötzlich â tack â das weiÃe Relief vor ihren Augen bluten.
Glasklar steht es Niki vor Augen. Abrupt dreht sie sich auf dem Absatz um.
»Das muss ich Jean erzählen!«, denkt sie sofort und rennt aus dem Museum, zur Seine hinunter, über die Brücke, all die StraÃen entlang, dann durch das Hinterhofgewirr zur Impasse Ronsin und zu Jeans Atelier.
»Jean!«, ruft sie atemlos und lässt sich aufeins der Schrottteile fallen.
Der kommt angestürzt, denkt, Gott weià was sei passiert. Doch dann sieht er Nikis Gesicht.
»Jean!« Noch immer ist Niki nicht zu Atem gekommen. »Ein weiÃes Reliefâ¦Â«
»Ja â und?«
»⦠rote Farbe â¦Â«
»Wo?«
»⦠dahinter ⦠und dann â¦Â« Niki deutet mit ihren Fingern einen Schuss an.
Jean kapiert sofort, was sie meint: »Das ist genial!«, lässt er sich von ihrer Begeisterung anstecken. »Das machen wir SOFORT!« Und schon ist er in Bewegung, um die nötigen Sachen zusammenzusuchen.
Gips ist da, Farben besorgen sie mitsamt Beuteln. In eine Holzplatte schlägt Niki lange Nägel, damit hinterher in der Senkrechten alles genug Halt hat. Dann füllt sie die Farbbeutel. Schnell, denn sie kann es kaum erwarten. Spaghetti kommen auch hinein, Tomaten, Eier, was herumliegt. Sie ist wie im Rausch. Am Schluss legt sie Gips über das reiche, wirre Innenleben, deckt seine Geheimnisse unter einer weiÃen Decke zu. MAGISCH. Jetzt muss es trocknen.
Sich mit dem Handrücken die Haare aus dem feuchten Gesicht streichend, richtet Niki sich auf und dreht sich um zu Jean: »Und wo kriegen wir jetzt ein Gewehr her?«
Konspirative Zusammenkunft
Sie haben keins, und Niki kann ihr neues Kunstwerk nicht sofort vollenden. Aber vielleicht ist das auch gerade gut so, denn so erfährt dieser aufregende Moment seine gebührende Feierlichkeit durch Mitwirkende.
Am 12. Februar 1961 ist es soweit: Exklusiv geladen sind Pierre Restany, die Galeristin Jeannine de Goldschmidt, Daniel Spoerri, Hugh Weiss, die beiden befreundeten Fotografen Harry Shunk und
Janos Kender sowie der Betreiber einer JahrmarktsschieÃbude, der der Besitzer des Gewehrs ist. Sie alle sind gekommen und gespannt auf das, was sich vor ihren Augen jetzt ereignen wird.
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Niki spürt ihr Herz heftig klopfen. Rund um sie herum stehen erwartungsvoll die Zuschauer. Da, vor ihr an der Ziegelwand hängt ihr Relief. Langsam und konzentriert legt sie an, nimmt ihr Ziel ins Visier und setzt einen entschlossenen SCHUSS. Getroffen. Das erste Farbrinnsal flieÃt über das jungfräuliche WeiÃ, nimmt ihm seine Unschuld. Gebannt sieht Niki dem Schauspiel zu, sammelt sich. Noch ein SCHUSS, erneut ein Treffer.
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Dann tritt sie zurück und reicht die Waffe weiter. Jeder kommt dran, jeder der hier Anwesenden schieÃt. Gemeinsam vollenden sie das Werk. Symbolisch wird das Relief getötet und im selben Akt erschaffen. Dies Erlebnis beeindruckt sie alle zutiefst.
Shootingstar
Niki und Jean legen mit ihrer Kunst den Nerv der Zeit offen.
N och an Ort und Stelle beschlieÃt Pierre Restany, Niki in die Gruppe der Nouveaux Réalistes aufzunehmen. Ab jetzt ist sie dabei, als einzige Frau. Gleich an der nächsten Gruppenausstellung in Nizza vom 13. Juli bis zum 13. September 1961 nimmt sie teil.
Ebenso wird sie zur groÃen Ausstellung über kinetische (bewegliche) Kunst eingeladen, die in Amsterdam, Stockholm und Kopenhagen zu sehen ist. In allen drei Städten führt Niki SchieÃaktionen durch. Als Krönung dieses Sommers hat Niki in der »Galerie J.« von Jeannine de Goldschmidt ihre erste Einzelausstellung in Paris, zwei ganze Wochen lang! Der Besucherandrang ist enorm, das Medieninteresse auch, und am Ende sind alle SchieÃbilder verkauft.
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Einer der Käufer ist Robert Rauschenberg, was Niki tief bewegt. Er und Jasper Johns sind gerade in Paris, weil sie hier eine eigene Ausstellung haben. Oft sitzen sie alle â Niki, Jean, Bob und Jasper â zusammen in der Impasse Ronsin, essen und trinken gemeinsam und führen leidenschaftliche Gespräche über die Kunst und das Leben bis tief in die Nacht.
»Ja«, denkt Niki, unendlich glücklich, zwischendurch, »genau so will ich leben! Intensiv und frei und in aufrichtiger Freundschaft und Liebe!«
Eines Tages stellt Bob spontan aus Betttüchern Jean zu Ehren ein
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