Nimm dich in acht
Chandler mit dem geschulten Verstand einer Staatsanwältin unter Umständen entdecken würde.
Er wußte, daß er es nicht so weit kommen lassen durfte.
20
Susan schlief unruhig, wirre Träume plagten sie. Als sie aufwachte, erinnerte sie sich an bruchstückhafte Szenen, in denen Jane Clausen, Dee, Jack und sie selbst aufgetaucht waren. Einmal hatte Jane Clausen sie angefleht: »Susan, ich will Regina wiederhaben«, während Dee die Hand ausstreckte und sagte: »Susan, ich möchte Jack.«
Wenigstens hattest du ihn einmal, dachte Susan. Sie stieg aus dem Bett und reckte sich, um den vertrauten Druck auf der Brust loszuwerden. Es ärgerte sie zutiefst, daß ein Traum wie dieser nach all den Jahren eine Flut von Erinnerungen auslösen konnte. Erinnerungen an die Zeit, als sie dreiundzwanzig war, im zweiten Jahr Jura studierte und stundenweise für Nedda arbeitete. Jack war achtundzwanzig, ein Werbefotograf, der sich gerade erst einen Namen machte. Und sie waren verliebt.
Dann der Auftritt von Dee. Die große Schwester.
Liebling der Modefotografen. Elegant. Amüsant.
Charmant. Drei Männer standen Schlange, um sie zu heiraten, aber sie wollte nur Jack.
Susan ging ins Bad und griff nach der Zahnpastatube.
Sie putzte sich energisch die Zähne, als könne sie so den bitteren Nachgeschmack auslöschen, den sie stets im Mund hatte, wenn sie an Dees tränenreiche Rechtfertigung zurückdachte: »Susan, verzeih mir. Aber das zwischen Jack und mir war unvermeidlich … unausweichlich.«
Und Jacks gequälte Pseudo-Entschuldigung: »Susan, es tut mir so leid.«
Und das Verrückte ist, dachte Susan, daß sie tatsächlich wie füreinander geschaffen waren. Sie liebten sich wirklich. Vielleicht sogar zu sehr. Dee haßte die Kälte.
Hätte sie ihn nicht so sehr geliebt und ihm jede Freude machen wollen, dann hätte sie sich geweigert, sich noch einmal von Jack auf einen Skihügel zerren zu lassen. Wäre es ihr gelungen, ihn zu Hause festzuhalten, dann wäre er nicht von der Lawine mitgerissen worden. Und vielleicht würde er dann heute noch leben.
Hätte ich Jack geheiratet, dachte Susan, während sie das heiße Wasser aufdrehte, wäre ich jetzt vielleicht auch tot, weil ich ihm auf jeden Fall auf die Skipiste gefolgt wäre.
Ihre Mutter hatte sie verstanden. »Ich weiß, Susan, hättest du dich zu einem Mann hingezogen gefühlt, den Dee mochte, wärst du von der Bildfläche verschwunden.
Aber eines mußt du akzeptieren, auch wenn es dir schwerfällt, es zu verstehen – Dee war immer schon eifersüchtig auf dich.«
Ja, ich wäre von der Bildfläche verschwunden, dachte Susan, als sie ihren Morgenmantel auszog und sich unter den dampfenden Wasserstrahl stellte.
Um halb acht war sie angezogen und nahm ihr gewohntes Frühstück aus Saft, Kaffee und einem halben englischen Muffin zu sich. Sie schaltete Good Day, New York ein, um die Nachrichten zu hören. Doch schon nach den ersten Bildern läutete das Telefon.
Es war ihre Mutter. »Ich wollte dich kurz sprechen, bevor du in Arbeit versinkst, Schatz.«
Susan freute sich, daß ihre Mutter optimistisch klang, und schaltete den TV-Ton aus. »Hallo, Mom.« Dem Himmel sei Dank, daß sie noch mit Mom angesprochen werden will, dachte sie, und nicht mit Emily.
»Deine Sendung gestern war faszinierend. Ist die Frau, die angerufen hat, in deine Praxis gekommen?«
»Nein, leider nicht.«
»Kein Wunder. Sie wirkte sehr beunruhigt. Aber ich dachte, es interessiert dich vielleicht, daß ich Regina Clausen einmal begegnet bin. Ich war mit deinem Vater auf einer Aktionärsversammlung. Das war in der Ära v.
B., also etwa vor vier Jahren.«
V. B. Vor Binky.
»Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß Charley-Charles diese Regina Clausen mit den tollen Investitionen beeindrucken wollte, die er getätigt hatte; ein Umstand, an den ich ihn während der Verhandlungen über meinen Unterhalt erinnert habe. Aber da wollte er natürlich nichts mehr davon wissen.«
Susan lachte. »Mom, hab ein Herz.«
»Entschuldige, Susan, ich wollte keinen Witz über die Scheidung machen«, sagte ihre Mutter.
»Aber du hast es getan. Du tust es immerzu.«
»Da hast du recht«, gab ihre Mutter fröhlich zu. »Aber eigentlich habe ich ja angerufen, um dir von Regina Clausen zu erzählen. Sie war uns gegenüber recht aufgeschlossen – du weißt ja, was für ein Süßholzraspler dein Vater sein kann – und erzählte uns, daß für ihren nächsten längeren Urlaub eine Kreuzfahrt geplant sei. Im Hinblick
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