Nimm dich in acht
nach oben zu gehen und zu warten, bis sie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte.
Es geht doch nichts über einen Hauch altmodische Galanterie, dachte Susan, als sie das Licht ausschaltete.
Sie war zwar müde, konnte jedoch nicht aufhören, über die Ereignisse des Tages nachzudenken, immer wieder durchzugehen, was geschehen und was nicht geschehen war. Sie dachte an Donald Richards, den Autor von Verschwundene Frauen. Ein interessanter Gast. Er hätte es offenbar gern gesehen, wenn er von ihr zu dem erhofften Treffen mit »Karen« eingeladen worden wäre.
Ein wenig peinlich berührt dachte Susan daran zurück, wie kalt sie ihn hatte abblitzen lassen, als er sagte, er würde gern mit ihr über das sprechen, was Karen vielleicht zu berichten hätte.
Ob sie noch einmal von Karen hören würde? fragte sie sich. Wäre es ratsam, sie in der morgigen Sendung zu bitten, Kontakt mit ihr aufzunehmen, zumindest telefonisch?
Als sie fast eingeschlafen war, schrillte eine Warnglocke in ihrem Unterbewußtsein. Sie starrte in die Dunkelheit und versuchte herauszufinden, was ihren inneren Alarm ausgelöst hatte. Offenbar war heute etwas geschehen oder sie hatte etwas gehört, auf das sie hätte achten sollen. Aber was?
Als sie merkte, daß sie zu müde war, um sich jetzt noch zu konzentrieren, drehte sie sich um und schloß die Augen. Sie würde morgen darüber nachdenken; dann hatte sie ja jede Menge Zeit.
19
Hilda Johnson schlief fünf Stunden. Als sie um halb elf aufwachte, fühlte sie sich erfrischt und hatte Hunger. Eine Tasse Tee und eine Scheibe Toast würden ihr jetzt guttun, entschied sie, setzte sich auf und griff nach ihrem Morgenmantel. Außerdem wollte sie sehen, ob sie noch einmal in den Elf-Uhr-Nachrichten gezeigt wurde.
Nach den Nachrichten könnte sie wieder ins Bett gehen und einen Rosenkranz für Carolyn Wells beten, die arme Frau, die von dem Transporter überfahren worden war.
Sie wußte, daß Captain Tom Shea morgen um Punkt acht im Revier sein würde. Dort wollte sie ihn bereits erwarten. Während sie den Gürtel ihres Chenille-Morgenmantels verknotete, vergegenwärtigte sich Hilda noch einmal das Gesicht des Mannes, der Mrs. Wells vor den Transporter gestoßen hatte. Jetzt, da der erste Schock vorüber war, konnte sie sich sogar noch deutlicher an ihn erinnern. Sie wußte, daß der Polizeizeichner morgen eine lückenlose Beschreibung des Mannes von ihr erwarten würde.
Vor beinahe siebzig Jahren war sie selbst eine gute Zeichnerin gewesen. Ihre Kunstlehrerin in der Mittelstufe, Miss Dunn, hatte sie sehr gelobt. Sie sagte, Hilda habe echtes Talent, vor allem Gesichter seien ihre Stärke. Aber mit dreizehn Jahren hatte das Arbeitsleben für sie begonnen, und es blieb keine Zeit mehr für solche Dinge.
Nicht, daß sie das Zeichnen komplett aufgegeben hätte.
Im Laufe der Jahre hatte sie oft Zeichenblock und Stift in den Park mitgenommen und Tuschezeichnungen angefertigt, die sie später rahmte und ihren Freunden zum Geburtstag schenkte. In letzter Zeit hatte sie das allerdings nicht mehr gemacht. Es waren nur noch wenige Freunde übrig, und außerdem waren ihre Finger so geschwollen von der Arthritis, daß sie nur noch mit Mühe den Stift halten konnte.
Dennoch würde es ihr morgen früh bei der Polizei viel leichter fallen, das Gesicht des Mannes zu beschreiben, wenn sie es jetzt auf Papier bannte, solange es ihr noch frisch im Gedächtnis war.
Hilda ging zu dem Sekretär, der früher ihrer Mutter gehört hatte und den Ehrenplatz in ihrem winzigen Wohnzimmer einnahm. Sie öffnete das Pult unter der Vitrine aus Mahagoni und Glas und zog einen Stuhl heran.
In einer Schublade lag eine Schachtel mit Briefpapier, die ihre Freundin Edna ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Am oberen Rand der großen, gelben Papierbögen waren die Worte »Ein Bonmot von Hilda Johnson« aufgedruckt.
Edna hatte ihr erklärt, ein Bonmot sei ein kluger Ausspruch, und sie wisse, daß Hilda sich über die Bögen im DIN-A4-Format freuen würde. »Die sind nicht so wie diese kleinen Kärtchen, auf die du gerade mal zwei Zeilen schreiben kannst.«
Außerdem hatte so ein Blatt die ideale Größe für eine rasche Skizze, die Hilda helfen würde, ihre Erinnerung an den Kerl festzuhalten, der dieser armen Frau den Umschlag gestohlen und ihr dann den Stoß versetzt hatte.
Mit steifen, schmerzenden Fingern begann Hilda zu zeichnen. Allmählich nahm ein Gesicht Formen an – nicht im Profil, sondern eher eine
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