Nimm dich in acht
verengten, als studiere er sie unter dem Mikroskop.
»Dr. Susan«, sagte er, »ich muß Ihnen etwas gestehen.
Ich habe im Internet unter Ihrem Namen nachgesehen.«
Dann sind wir schon zwei, dachte Susan. Wie du mir, so ich dir – das ist nur fair.
»Sie sind in Westchester aufgewachsen?« fragte er.
»Ja. In Larchmont und in Rye. Aber meine Großmutter hat immer in Greenwich Village gelebt, und ich war als Kind oft am Wochenende bei ihr. Es hat mir immer sehr gefallen. Meine Schwester ist eher der Country Club-Typ.«
»Eltern?«
»Vor drei Jahren geschieden. Und leider keine Trennung im guten. Mein Vater hat sich Hals über Kopf in eine andere Frau verliebt. Meine Mutter war am Boden zerstört und durchlief sämtliche Phasen von Verzweiflung, Wut und Bitterkeit bis zu Verdrängung. Was man sich nur vorstellen kann.«
»Und wie ist es Ihnen ergangen?«
»Ich war traurig. Wir waren eine eng verbundene, glückliche Familie, so dachte ich jedenfalls. Wir hatten Spaß miteinander. Wir mochten uns wirklich. Aber nach der Scheidung war einfach alles anders. Manchmal denke ich, es war wie bei einem Schiff, das mit einem Riff kollidiert und sinkt. Alle, die an Bord waren, haben zwar überlebt, aber jeder ist in ein anderes Rettungsboot gestiegen.«
Sie merkte plötzlich, daß sie mehr gesagt hatte, als sie eigentlich wollte, und war froh, daß er nicht nachhakte.
Statt dessen sagte er: »Ich bin neugierig. Wie kam es, daß Sie die Staatsanwaltskarriere aufgaben und wieder zur Uni gingen, um Ihren Doktor in klinischer Psychologie zu machen?«
Diese Frage konnte Susan leicht beantworten. »Ich merkte, daß ich rastlos wurde. Es gibt viele völlig verhärtete Kriminelle, und es hat mich wirklich befriedigt, sie aus dem Verkehr zu ziehen. Aber dann vertrat ich einen Fall, in dem eine Frau ihren Ehemann getötet hatte, weil er sie verlassen wollte. Sie bekam fünfzehn Jahre. Ich werde nie ihr fassungsloses, ungläubiges Gesicht vergessen, als sie das Urteil hörte. Ich dachte, wenn man sie rechtzeitig aufgefangen hätte, wenn sie Hilfe bekommen, ihren Zorn verarbeitet hätte, bevor er sie zerstörte …«
»Großer Kummer kann ein Auslöser für großen Zorn sein«, sagte er leise. »Zweifellos dachten Sie später, als Sie ihre Mutter in der gleichen Situation erlebten, daß sie an der Stelle der verurteilten Frau sein könnte.«
Susan nickte. »Nach der Trennung hatte meine Mutter kurze Zeit Selbstmord- und Gewaltphantasien, wenn sie an meinen Vater dachte. Ich habe ihr nach besten Kräften geholfen, das zu überwinden. In mancherlei Hinsicht fehlt mir das Auftreten vor Gericht, aber ich weiß, daß es die richtige Entscheidung für mich war. Und Sie? Wie sind Sie zur Psychologie gekommen?«
»Ich wollte immer Arzt werden. Während des Medizinstudiums wurde mir klar, in welchem Maße seelische Vorgänge sich auf die physische Gesundheit auswirken, und deshalb habe ich diese Richtung eingeschlagen.«
Der Geschäftsführer erschien mit der Speisekarte, und nachdem sie kurz über das Für und Wider verschiedener Speisen diskutiert hatten, bestellten sie ihr Essen.
Susan hatte gehofft, die Unterbrechung dazu nutzen zu können, das Gespräch mehr auf ihn zu lenken, aber er kam sofort auf das Thema ihres Talkradios zurück.
»Meine Mutter hat heute noch etwas anderes angesprochen«, sagte er beiläufig. »Haben Sie noch mal von Karen gehört, der Frau, die am Montag angerufen hat?«
»Nein«, sagte Susan.
Donald Richards brach ein Stück von seinem Brötchen ab. »Hat Ihr Produzent Justin Wells den Mitschnitt der Sendung geschickt?«
Mit dieser Frage hatte Susan nicht gerechnet. »Kennen Sie Justin Wells etwa?« fragte sie und konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
»Ich bin ihm einmal begegnet.«
»Privat oder beruflich?«
»Beruflich.«
»Haben Sie ihn wegen seiner exzessiven Eifersucht auf seine Frau behandelt? Weil er gefährlich war?«
»Warum fragen Sie?«
»Sollte die Antwort ja lauten, finde ich, daß Sie die moralische Verpflichtung haben, der Polizei zu erzählen, was Sie über ihn wissen. Ich wollte Ihnen nicht ausweichen, als Sie nach Karen gefragt haben. Es ist so –
ich habe zwar nichts mehr von ihr gehört, aber ich konnte etwas über sie herausfinden. Wie sich herausgestellt hat, ist die Frau, die sich Karen nannte, Justin Wells’ Ehefrau; ihr richtiger Name lautet Carolyn. Wenige Stunden nach dem Anruf in meiner Sendung wurde sie von einem Transporter überfahren, möglicherweise
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