Nimmermehr
hatten, und schnüffelte wie wild an dem Baumstamm, hinter dem sich das scheue Tier bis vor wenigen Augenblicken versteckt gehalten hatte. Er knabberte sogar an der Rinde, die ihm aber nicht zu schmecken schien.
»Luzia erwartet uns wohl in ihrem Refugium Scriptorium«, mutmaßte Greta.
Ich ergriff ihre Hand. »Komm!«
Zog sie hinter mir her.
Wir stapften durch den hohen Schnee abseits des Pfades, wo sich Zero bereits tummelte.
»Da!«
Sie wies auf die Stelle, an der noch vor wenigen Augenblicken das weiße Lamm gestanden hatte.
»Wie kann das möglich sein?«, fragte ich sie.
Greta starrte auf den Boden und zuckte ratlos die Achseln. »Ich habe keine Ahnung.«
»Das ist doch die Stelle, an der das Lamm gestanden hat?«
Sie stimmte mir zu.
»Die Abdrücke enden einfach mitten im Schnee.«
Schweigend standen wir da, während die langen Schatten der kahlen Bäume unsere Jacken berührten. Es gab keinen Zweifel. Die Spuren, die das Lamm im Schnee hinterlassen hatte, endeten tatsächlich an der Stelle, wo wir das Tier zuletzt gesehen hatten. Es gab keine Spuren, die zurück in den Wald führten. Rein gar nichts.
»Als hätte es sich in Luft aufgelöst«, murmelte ich.
Zero lief unruhig um die Stelle herum, an der die Spuren verebbten.
Ich musste an den traurigen Junker denken und die arme Agnes, die unten im Burghof erschienen war. Burg Karfunkelstein, so dachte ich insgeheim, hütet in der Tat mehr als nur ein Geheimnis. Und Greta, die neben mir stand und den Schnee zu unseren Füßen betrachtete, wusste entweder nichts davon – oder war nicht bereit, mit mir darüber zu reden.
Wie auch immer.
Was blieb, war ein Rätsel. Ein Rätsel, das selbst Zero zu wittern schien.
Wir folgten einem langen Hohlweg, der durch das Gehölz hinter dem eigentlichen Friedhof der Metzengersteins führte. Schließlich gelangten wir an den Ort, den Greta mir hatte zeigen wollen.
Etwas höher als der Friedhof, in dessen Nähe wir das weiße Lamm gesehen hatten, lag ein nahezu kreisrunder Platz, umgeben von dichten Tannen. Ein Ort voller ungelenk wirkender Schilder, die Kinderhände mühsam aus schiefen Brettern zusammengenagelt hatten, wo es winzige Grabsteine aus echtem Basalt gab, in die der Name eines lieben Haustiers eingemeißelt worden war. Die Inschriften erzählten kleine Dramen. Hunde, Katzen. Vögel, Hamster, Fische und Molche, die allesamt ihrem einstigen Haustierleben abgeschworen hatten und deren Überreste hier mit Hingabe beigesetzt worden waren.
»Es war Großmutters Idee gewesen.«
»Einen Tierfriedhof zu gründen?«
»Ja.«
»Aber wieso?«
»Sie hatte schon immer ein Herz für Tiere«, gestand Greta. »Und sie war an den Geschichten der Tiere interessiert.«
Wieder tauchten die Geschichten auf.
»Wenn wir die Tiere bestatten, dann müssen die Besitzer zum Abschied die Geschichte des Tieres erzählen. Das ist so eine Art Gebet, sagt Großmutter immer. Wenn wir uns der Geschichte des Tieres erinnern, dann wird es niemals in Vergessenheit geraten.«
Niemals.
Nimmer.
Nimmermehr.
Das war es, was ich in diesem Moment dachte. Und besonders wohl war mir bei diesem Gedanken nicht zumute.
Etwas an dieser ganzen Angelegenheit beunruhigte mich. Die Geschichten kehrten immer wieder zu mir zurück. Irgendwie. Unbändig. Unkontrollierbar. Warum, um alles in der Welt, waren alle hier nur so scharf darauf, irgendjemandes Geschichten zu erfahren?
»Du bist dabei?«
»Wobei?«
»Bei den Beerdigungen der Tiere.«
Zero tollte um uns herum und war ganz außer Rand und Band.
»Ja. Großmutter liest meistens etwas aus Dr. Doolittle vor. Etwas, was zu dem jeweiligen Tier passt.« Sie musste lächeln, als sie sagte: »Einmal hatten wir eine Kröte, die von einem siebenjährigen Mädchen als Kaulquappe gefunden worden war. Großmutter hat ihr ein Kapitel aus Der Wind in den Weiden vorgelesen. Und bei der letzten toten Maus, die wir hatten, habe ich Stewart Little gelesen.« So erfuhr ich, dass bei Katzen Der gestiefelte Kater zitiert wurde. Bei Fischen regelmäßig Die kleine Meerjungfrau, die Luzia Grillparzer wohl ein wenig variierte, so dass sie zu den jeweiligen Fischen passte.
Während sie mir von vergangenen Bestattungen berichtete, ging ich umher und betrachtete neugierig die Grabstätten. Meine Güte, es gab sogar ein Lämmchen, das auf den Namen Schaf gehört hatte, wie das verwitterte Holzkreuz uns versicherte. Unwillkürlich drängte sich mir die Frage auf, ob Schaf etwas mit dem weißen Lamm zu tun
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