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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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haben könnte.
    »Ein seltsamer Ort«, gab ich zu. »Bist du oft hier?«
    »Nein.«
    Dabei ließ ich es bewenden.
    Wir waren auf dem Rückweg zur Burg. Keiner von uns hatte seit dem Friedhof mehr über das Lamm gesprochen, und doch wussten wir beide, dass jeder von uns an nichts anderes mehr denken konnte. Wir hatten beide das Tier gesehen – und letzten Endes war es einfach so verschwunden. Als das Bellen des Hundes für einen Sekundenbruchteil nur unsere Aufmerksamkeit auf den heranstürmenden Zero gelenkt hatte, da hatte es sich in Luft aufgelöst.
    Plötzlich sagte Greta: »Ich mag den anderen Friedhof viel lieber.«
    Meine Antwort war eine Feststellung, nichts weiter. »Du magst die Gesellschaft von Menschen nicht sonderlich.«
    »Die meisten Menschen sind so einfältig«, antwortete sie. »Sie verdammen, was sie nicht kennen. Wenn die Touristen Burg Karfunkelstein in den Sommermonaten besuchen, dann trampeln sie achtlos durch die Räume, lassen ihre Kaugummis auf den alten Steinböden mit den schönen Fliesen kleben, werfen ihren Müll einfach in die nächste Ecke.« Wütend funkelten ihre Augen. »Ich hasse sie. Es ist mein Zuhause, das sie so behandeln. Und ich dumme Gans muss sie auch noch führen. Denn das ist es, was Papa von mir verlangt. Ich bin Fremdenführerin auf Burg Karfunkelstein. Ich bin diejenige, die den Touristen die alten Geschichten erzählt und letzten Endes doch nur die Langeweile in den Gesichtern sieht. Nein, Jonathan. Ich mag die Gesellschaft der Menschen nicht besonders. In der Schule war ich immer das Mädchen, über das die anderen ihre Witze gemacht haben.« Die Hände hatte sie tief in die Taschen ihres Parkas vergraben, als sie neben mir herging.
    »Wo gehst du zur Schule?«
    »Nicht weit von hier, in Münstermaifeld. Aber ich mag das Gymnasium dort nicht besonders. Für die anderen bin ich noch immer das seltsame Burgfräulein, das selbst in den Pausen mit seinem Skizzenblock in den schattigen Ecken des Schulhofs sitzt und seinen Gedanken nachhängt.«
    Zero kam angerannt und sprang an Greta hoch, bellte freudig und stob dann wieder davon, mitten hinein in den tiefen Schnee, der sich zu beiden Seiten des schmalen Weges auftürmte.
    »Die Schule ist ein grausamer Ort«, stellte Greta erneut fest. »Wenn du nirgends dazugehörst, dann stehst du allein da. Es gibt keinen Mittelweg. Entweder du bist wie die anderen …«
    »Oder allein.«
    Wir sahen uns an.
    Einen Augenblick nur.
    Doch, ach, so lange, dass ich mich noch immer daran erinnere.
    »Hast du einen Spitznamen?«
    »Warum fragst du, Jonathan?«
    »Weil’s mich interessiert. Du hast ja auch gefragt.«
    Sie scharrte mit dem Fuß im Schnee.
    »Wirst du es mir sagen?«, fragte ich sie.
    »Das Geheimnis um den Namen lüften, den mir die anderen gegeben haben?«
    »Ja.«
    Nach einigem Zögern sagte sie: »Rumpelstilzchen.« Ganz leise sprach sie es aus. Beschämt. »Deswegen«, fügte sie unsicher hinzu und deutete auf ihr Ohr. Dasjenige mit dem doppelten Ohrläppchen, an dem fünf Ringe steckten. »In der Grundschule hatten die anderen Mädchen noch schlimmere Namen für mich. Frankensteins Braut und Metzengersteins Hexe waren noch die netteren Bezeichnungen.« Sie schluckte. »Ich sei als Kind im Wald von meinen Eltern ausgesetzt worden, und Ohrenschleifer hätten mich angenagt, als ich im Laub eingeschlafen bin. Andere tuschelten, ich habe mich in der Hexenkunst versucht, weil nur sie mein hässliches Gesicht hätte retten können. Zur Strafe dafür, dass ich den Spruch falsch aufgesagt habe, sei mir dann das Ohr mutiert. So ein Zeug eben. Kindereien. Dumme Sprüche. Aber sie haben mich mein ganzes Leben lang begleitet. Immer habe ich von den Kindern gehört, dass mein Ohr hässlich sei. Eine unbändige Freude hatten sie daran, es mir vorzuhalten.«
    »Aber es ist hübsch«, sagte ich.
    Erneut wich sie meinem Blick aus.
    »Ich meine es ernst.«
    »Manche«, fuhr sie fort, »sprachen von Burg Metzgerstein, auf der ein Schlächter sein Unwesen triebe. Der hätte mir das Ohr mit einem Messer geschnitten, und ich sei so miesepetrig, weil ich mich selbst niemals im Spiegel ansehen könne. Einige behaupteten, dass es auf der Burg keinen einzigen Spiegel gegeben hätte, damit mich meine Eltern immer in dem Glauben hatten lassen können, dass ich hübsch sei.«
    »Du bist hübsch«, sagte ich.
    Sie starrte mich an.
    Jetzt war ich es, der den Blick senkte.
    »Du wirst ja ganz rot«, hörte ich sie sagen.
    »Das ist die Kälte.«
    Sie

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