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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Greta.
    »Hm.«
    Ein schmiedeeisernes Tor verwehrte uns den Zugang zum Friedhof. Ein finster dreinschauender Rabenkopf zierte die Flügel.
    »Der Rabe ist das Wappen derer von Metzengerstein«, erklärte Greta. »Und falls du dich fragst, wer das Vogelfutter auf den Friedhof bringt … das bin ich.« Sie zupfte den Schal vom Mund und atmete tief durch. »Die Luft hier draußen ist irgendwie frischer.«
    Eisig kalt, dachte ich. Viel eisig kälter, als man es von eisig kalten Wintertagen gewohnt ist.
    Ich atmete tief durch, und erneut fiel mir auf, wie still der Winterwald war. Es war, als halte die Natur den Atem an. Gerade so, als wolle sie die Toten, die dort drüben in ihren uralten Gräbern lagen, nicht in ihrem ewigen Schlaf stören.
    »Wenn es mir nicht gut geht«, gestand Greta mit einem Mal, »dann komme ich oft hierher.«
    Ich schwieg.
    »Im Winter ist es einfach nur still hier draußen. Und im Sommer kann man dem Rauschen der Pflanzen lauschen und dem Geraschel der Tiere im Unterholz.« Sie sah mich an. »Dann kann man sogar die eigenen Gedanken hören. Die richtigen Gedanken, meine ich. Die, auf die man sonst nicht hört.«
    »Zeichnest du hier draußen?«
    »Manchmal.«
    »Hm.«
    »Meistens sitze ich einfach nur da. Drüben, auf dem großen Stein.«
    Ein großer Findling ragte aus dem Gestrüpp am Rande der Friedhofsmauer.
    »Aber manchmal zeichne ich auch. Es gibt eine Reihe von Comics, die in dieser Gegend angesiedelt sind. Einige sind beeinflusst von den Geschichten, die mir Luzia erzählt hat. Andere habe ich mir einfach ausgedacht.«
    »Geschichten sind dir verdammt wichtig«, stellte ich fest.
    »Sie sind überhaupt das Allerwichtigste.«
    Mit einem Mal war mir, als hätte ich hinter einer Baumreihe ein Tier entlanghuschen sehen.
    »Was ist los?«
    Ich sagte es ihr.
    »Ein Tier?«
    »Ja.«
    »Vielleicht Zero?«
    »Du meinst, dass deine Großmutter ihn wieder losgeschickt hat, damit er uns sucht?«
    »Zuweilen tut sie das.«
    »Da!«, entfuhr es mir.
    Greta folgte meinem Fingerzeig.
    Etwas Weißes war hinter einem der dickeren Baumstämme verschwunden. Zierlich war es gewesen.
    »Ich habe es auch gesehen«, flüsterte Greta.
    »Es sah aus, wie …«
    Flink legte sie mir einen Finger auf den Mund. »Psst. Wir wollen es nicht verscheuchen.«
    Wie angewurzelt standen wir da.
    »Da ist es«, flüsterte Greta. »Ach, du meine Güte, das gibt’s doch nicht.«
    Fassungslos starrten wir hinüber zu dem Baumstamm.
    »Ist es …?«
    Meine Begleiterin nickte nur.
    Keiner von uns wagte einen Schritt zu tun.
    Denn vor uns stand tatsächlich ein weißes Lamm.
    Nur zögerlich kam es hinter dem Baumstamm hervor. Stakste auf seinen dürren Beinchen durch den hohen Schnee, und seine dunklen Augen strahlten eine seltsam wohlige Wärme aus. Winzige Schneeflocken hatten sich in der dünnen Wolle niedergelassen und glitzerten wie frostiger Tau am frühen Morgen. Das Tier schien keine Angst vor uns zu haben. Nahezu regungslos stand es da und betrachtete uns.
    »Jonathan?« Ich spürte, wie Greta meine Hand ergriff.
    Ganz durcheinander dachte ich an die Geschichte vom Karfunkelstein.
    Vorsichtig kam das Tier einen Schritt auf uns zu. Es legte den Kopf schief, und mir war, als lächelte es uns an.
    Gretas Hand zitterte.
    Und ich glaube, meine tat es auch.
    Wir blickten in die ehrlichen dunklen Augen des weißen Lamms.
    Dann war der Wald mit einem Mal von lautem tiefen Bellen erfüllt.
    Erschrocken rissen wir die Köpfe herum.
    »Zero!«, entfuhr es Greta.
    Als ich mich erneut nach dem Lamm umdrehte, war es verschwunden.
    Einfach so.
    Stattdessen kam Zero, der suchende Labrador, durch den Schnee auf uns zugesprungen. Ohne abzubremsen, sprang er mich an, zweifelsohne voller Freude, uns gefunden zu haben. Ich verlor das Gleichgewicht und setzte mich mehr oder weniger unsanft in den hohen Schnee, was Zero nicht davon abzuhalten vermochte, mir augenblicklich mit seiner warmen Zunge über das Gesicht zu lecken. Ich rang nach Atem, und als Zero von mir abgelassen hatte, sah ich, dass Greta in die gleiche Richtung starrte wie ich selbst.
    »Es ist fort«, stellte sie fest. »Wie damals.«
    »Du meinst die Geschichte.«
    Sie nickte. »Als man in Naunheim den Karfunkelstein fand.«
    Wir versanken beide in Schweigen.
    Da sprang Zero an ihr hoch.
    Sie streichelte ihn hinter den Ohren und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
    Darauf schien der Labrador gewartet zu haben. Er lief zu der Stelle, wo wir eben noch das weiße Lamm gesehen

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