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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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und?«
    Etwas verlegen sagte ich: »Das tun die wenigsten.«
    »Er gefällt mir. Deswegen spreche ich ihn aus.«
    Die Baumwipfel schüttelten hier und da den Schnee ab, wenn sie ein Hauch des eisigen Windes streifte.
    »Jonathan«, flüsterte Greta.
    Grinste.
    »Jonathan Morgenstern.«
    »In der Schule nennen mich die meisten Pym.«
    »Pym?«
    Ich nickte.
    »Wie in der Geschichte von Edgar Allan Poe?«
    »Ja.«
    »Warum das?«
    »Ist nicht so wichtig.«
    »Ach, nein?«
    »Mein Vater nannte mich früher oft Krümel. Weil ich so klein war.«
    »Weil du ein Löwenherz hast?«
    Ich lächelte.
    Ein großer Rabe schwebte in der eisgrauen Luft über uns.
    »Du siehst, Jonathan, die Geschichten umgeben uns. Überall.« Sie blieb stehen und schaute in den Wald hinein. »Geschichten sind so wichtig. Die wenigsten Menschen wissen das.« Die kahlen Gerippe der Bäume warfen lange Schatten in das Tal, in dessen Mitte sich Burg Karfunkelstein erhob, als sei sie tatsächlich einem alten Märchenfilm entsprungen.
    Alles erschien mir mit einem Mal so unwirklich. Köln war so weit entfernt, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen konnte, jemals dorthin zurückzukehren. Mir war, als hätte ich mein altes Leben dort abgelegt. Dieses Leben in dem Zimmer voller Comicalben, in das sich meine Eltern so selten verirrt hatten. Dies Leben in einer Schule, durch deren Korridore ich wie ein Fremdkörper schlenderte. Jene Stadt, die so kalt geworden war und in der Baustellen wie faulige Zähne aus dem Boden sprossen.
    »Arthur Gordon Pym.« Beherzt griff sich Greta eine Handvoll Schnee und formte einen Ball daraus. »Nun sag schon!« Drohend hielt sie den Schneeball in ihrer Hand. »Dies«, sagte sie laut und theatralisch, »ist deine letzte Chance.«
    Auf einmal musste ich laut lachen.
    »Ist schon gut, ich erzähl’s ja.«
    Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es richtig wäre, ihr davon zu erzählen.
    Erwartungsvoll musterte sie mich.
    »In der neunten Klasse«, begann ich, »haben wir den Roman im Englischunterricht gelesen. Im Grunde genommen geht es um einen Jungen, der immer tiefer in die Tinte gerät, weil er sich von einem seiner Kumpels dazu überreden lässt, unüberlegte Dinge zu tun. Am Ende findet er sich als blinder Passagier auf einem Schiff wieder, auf dem er dann seltsame Abenteuer besteht. Nun ja, bestehen muss. «
    »Was hat das alles mit dir zu tun?«
    »Ich war der blinde Passagier.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Ein Mitschüler hatte die Idee. Weil ich immer so ruhig bin. Und …«
    »Und?«
    »Schüchtern.«
    Sie lächelte. »Bist du das?«
    »Ich bin der typische Schüler, den die anderen zwar nett finden, manchmal sogar richtig lustig, den aber niemand vermisst, sobald er einmal fehlt.« Jetzt, da ich neben Greta den Waldweg entlangging, waren die langen Schulkorridore mit den glänzenden Linoleumböden so weit entfernt, als gehörten sie gar nicht mehr in diese Welt.
    Greta blickte zu Boden. »Die Schule«, murmelte sie, »kann ein grausamer Ort sein.«
    Ich fragte mich, weshalb sie dies so sagte. Und musste wieder an den Altbau denken mit dem großen Tor und den hohen Fenstern. Den langen Schatten, die das geschichtsträchtige Gebäude im Sommer warf, und daran, dass einen diese Schatten immer frösteln ließen.
    »Tja, so kam ich jedenfalls zu dem Namen. Unser Lehrer charakterisierte Arthur Gordon Pym als einen blinden Passagier. Er sei jemand, der immerzu seinen Gedanken nachhängt. Der am Ende nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Traum unterscheiden kann.« Greta lauschte meinen Worten aufmerksam. »Jemand, den eigentlich niemand mehr vermisst, als er am Ende der Geschichte im Mahlstrom verschwindet.« Ich sah mich um und wurde wieder der tiefen Stille gewahr, die uns umgab. »Irgendein Klugscheißer rief dann in die Klasse: ›So wie Jonathan.‹ Das war’s.«
    »Seitdem nennen sie dich Pym?«
    »Ja.«
    »Und?«
    »Was meinst du?«
    »Ist es dir unangenehm?«
    »Sie meinen es nicht böse«, antwortete ich. »So ist das eben in der Schule.«
    »Bist du dir sicher?«
    Ich nickte.
    Sagte dann aber doch: »Nicht wirklich.«
    Der Rabe, der vorhin unseren Weg gekreuzt hatte, war nun verschwunden.
    Der Weg hatte uns mittlerweile um Burg Karfunkelstein herumgeführt, und wir traten jetzt in den tiefen Wald ein. Jedenfalls mochte er während der Sommermonate ein tiefer Wald sein, doch nicht unbedingt jetzt, wo sich die langen Baumgerippe in die fahle Mittagssonne reckten und mürrisch und lustlos ihre Äste im Wind

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