Nimmermehr
hinterher. Von Lochmaddy aus sind es zehn Meilen Fußweg bis nach Baleshare. Es gibt auf der Insel nur eine einzige Straße, deren Verlauf sich der ständigen Bewegung der Moore anpasst. Wenn ich mich sofort auf den Weg mache, werde ich gegen Mittag dort sein. Ich werde den Weg zu Fuß zurücklegen. So verbleibt mir noch ein wenig Zeit.
Die Landschaft hier ist noch um ein Vielfaches trister als auf Skye. Nicht einmal Bäume gibt es. Nur Gras, Felsen und düstere Moore. Ich krame eine Flasche Glenfiddich aus meinem Rucksack hervor und nehme einen langen Schluck. Das Brennen in der Kehle tut gut. Ich stelle mir vor, wie das malzige Feuer die Eingeweide verbrennt und mich langsam aushöhlt. Dann verschließe ich die Flasche, stecke sie zurück in den Rucksack, wo sie gegen die kleine Ampulle stößt, die meinem Leben ein Ende bereiten wird.
Ich muss mich auf den Weg machen.
Deine Max
An Holden Caulfield!
Falls Du wirklich meine Geschichte hören willst, dann möchtest Du bestimmt nicht wissen, wo ich geboren wurde und wie ich meine verflixte Kindheit verbrachte, und ich habe auch gar keine Lust, mich über all diese Dinge auszulassen. Aber ich will Dir vom Mitternachtsball erzählen, jenem Ball, den es seit unzähligen Studentengenerationen gibt und mit dem man das vergangene Jahr verabschiedet und das neue begrüßt. Die Teilnehmer tragen alte traditionelle Masken. Es wird getanzt, bis dann Schlag Mitternacht die Masken fallen und die wirklichen Gesichter der Tänzer zum Vorschein kommen. Julee und ich trugen selbstgeschneiderte Kostüme aus der letzten Macbeth-Inszenierung, dazu düstere Masken, die die Gesichter vollständig verbargen. Kyle (Julees Freund) und Sean erschienen in geliehenen Smokings mit Augenmasken. Wir tanzten wild, hüpften zu schottischen Volksweisen umeinander, emsig bemüht, den Partner, in dessen Armen man sich Schlag Mitternacht wiederfinden wollte, nicht aus den Augen zu verlieren. Sekunden vor dem Glockenschlag stand Sean dann vor mir, neben ihm eine fremde Frau, die beiden eng umschlungen. Ernste Augen blickten mir durch die Schlitze der Masken entgegen. Ich tat nichts, stand nur da und starrte den beiden entgegen.
Es war eine Zeitlupe: die Zeiger der Uhr fallen beide in die Senkrechte, um uns herum reißen sich die Menschen die Masken vom Gesicht, ebenso Seans Unbekannte, die er mir als seine Verlobte vorstellt, jeder Glockenschlag ist wie ein Schuss in meinem Kopf, alles dreht sich, ich werde es verstehen, sagt Sean, und die Frau an seiner Seite schweigt kalten Blickes, ich verstehe nicht, was da passiert, behalte meine Maske auf, kämpfe mich durch die Massen lachender betrunkener Gesichter zur Bar, bestelle einen Whiskey und kippe ihn hinunter, frage mich, wo Julee und Kyle sich herumtreiben; später findet mich Julee in der Toilette, ich kotze mir die Seele aus dem Leib und heule, und dann reißt der Faden der Erinnerung mit einem zischenden Ton ab.
Der Mitternachtsball: der Anfang, das Ende – wie immer man es nennen mag. Julee und Kyle brachten mich nach Hause. Die Tage, die folgten, waren die Ewigkeit. Keine Nachricht von Sean. Keine Erklärung. Nichts. Seans Wohnung in der Duke Street war verlassen. Er selbst verschwunden. Drei Wochen später dann erreichte mich ein Brief aus Belfast: Seans Abschied, patriotisches Geschwätz eines Menschen, den ich nicht kannte, der meine Nähe gesucht hatte, weil mein Vater Abgeordneter im Parlament war und unsere Beziehung eine absolute Notwendigkeit für die Freiheit Irlands gewesen sei. Es war alles ganz einfach: Sean hatte mich benutzt. Er war an die Informationen gelangt, nach denen es ihn verlangt hatte. Als der Kontakt zu meinen Eltern im Herbst letzten Jahres abgebrochen war, verlor er dann das Interesse an mir.
Das ist alles, was ich erzählen wollte. Ich könnte zwar noch erzählen, wie es weiterging, aber ich habe keine Lust dazu. Komisch. Man sollte nie jemand etwas erzählen. Sonst fangen sie alle an, einem zu fehlen.
Maxine MacLachlan
An Sean Miller:
Letzte Woche sah ich Dein Bild in den Spätnachrichten der BBC. Sie zeigten es, und im Hintergrund erkannte man eine brennende Häuserzeile. Die beiden Bombenattentate auf die Pubs in Newcastle upon Tyne: blutige Leichen unter schwarzen Plastikfolien, verkohlte Gegenstände, Pfützen, in denen sich Lichter spiegeln, Notärzte, umherlaufende Polizisten, weinende Menschen, Sanitäter in blutverschmierten Anzügen. Ich habe Dich geliebt, Thomas Miller. In der linken
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