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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Bildhälfte blendeten sie Deinen Namen ein. Die IRA bekannte sich zu den Anschlägen. Zwei der Terroristen konnten identifiziert werden. Man stellte sie im Hafen von Carlisle. Sie zeigten die Leichen der beiden.
    Ich habe um Dich geweint, Sean. Was soll ich nur der Kleinen erzählen?
    Lebwohl
    Deine Max
     
    Liebste Julee,
    vier Stunden Fußmarsch über eine Straße, die unter meinen Schritten federte; die Moore sind überall, wie der dunkle Geruch nach Torf. Ich habe Baleshare erreicht. Es ist seltsam, wieder hier zu sein. Baleshare, der Strand, an dem mir Sean die Zukunft versprach.
    Ein sonderbarer Ort: die Wiese vor mir ist nur so mit Blumen übersät und geht nach zweihundert Metern in einen steinigen Strand über, Schrott sticht aus dem Boden hervor, Wildblumen wachsen im Führerhaus eines verlassenen Kipplasters, Schafe laufen neben einem liegengelassenen Möbelwagen herum, überall werden die Zeichen der technisierten Zivilisation von der Natur überwuchert. Ich selbst bin ins Führerhaus des Kipplasters geklettert, wo mir der Regen nichts anhaben kann. Die Plastiksitze sind noch gut erhalten. Alles in allem ein gemütlicher Ort, um zu rasten.
    Weit und breit ist keine Menschenseele zu erkennen. Nur das Meer ist allgegenwärtig mit seinem Rauschen, da sind die Schafe und der wolkenverhangene Himmel, der am Horizont mühelos in das eintönige Grau der See übergeht. Der Rucksack liegt zu meinen Füßen, die Flasche Glenfiddich ruht neben mir auf dem Fahrersitz, die Briefe sind säuberlich im Rucksack verstaut, wo sie sich den Platz mit der winzigen Ampulle voller Arsen teilen müssen.
    Ich habe Angst vor dem letzten Schritt.
    Nachdem ich Glasgow verlassen hatte, verließ mich alle Lebenslust. Ich kehrte dem Theater den Rücken, weil es mich wahnsinnig machte, in andere Rollen zu schlüpfen. Ich ging nach Inverness und nahm die erstbeste Anstellung an, deren ich habhaft werden konnte. Tagsüber arbeitete ich, abends und nachts saß ich allein zuhause, ließ die Zeit verstreichen und sah mir Filme an, in denen Menschen starben, nahm Anteil an diesen fremden erdachten Schicksalen, ging nicht mehr aus, fühlte mich elend und spürte das neue Leben in mir.
    Als ich den Bericht der BBC sah, zerbrach etwas in mir drinnen, etwas, was man behüten sollte. Es tut mir leid. Die Welt ist so hässlich, Julee. Ich rasierte mir die Haare ab, beobachtete, wie die Locken ins Waschbecken fielen, dann verbrannte ich sie, und der Gestank war ekelhaft. Ich kaufte mir ein Ticket (One Way) nach Kyle of Lochalsh. So begann die Reise.
    Jetzt bin ich hier. Baleshare ist ein wunderbarer Ort. So fremd. Eigenartig. Schön. Seit über zwei Stunden sitze ich bereits untätig im Führerhaus des Lasters und betrachte die Wellen, die über die Steine am Strand schwappen. Auf der Kühlerhaube des Lasters wachsen Blumen (frage mich nicht, wie das möglich ist, es ist eben so). Was soll ich tun? Julee, hilf mir! Meine Hand umfasst krampfhaft den Bleistift, der nur mehr ein stumpfer Stummel ist: abgenutzt. Ich selbst: leergeschrieben. Der Notizblock hat nur noch zwei Blätter. Was zu sagen war, ist gesagt worden.
    Ich denke, ich werde noch eine Zeitlang einfach nur so dasitzen, auf die See hinausschauen und mich dem Augenblick hingeben.
    Es sollte schnell und schmerzlos geschehen.
    Lebwohl
    Deine Maxine
     
    An Dylan Thomas:
    Wie ein windabgeworfenes Licht stehe ich am Strand von Baleshare, zu meinen Füßen die Linie des Wassers, das schluchzend die kleinen Steine überflutet und meine Stiefel, in den Händen halte ich die während der letzten beiden Tage geschriebenen Briefe, betrachte sie, meine Hände zittern dabei, und meine Augen haben sich mit Tränen gefüllt. Kalter Regen fällt mir ins Gesicht. Ich nehme die Briefe, lockere den Griff und schaue zu, wie einer nach dem anderen ins Wasser fällt, von den Fluten ergriffen wird. Die Blätter werden langsam weich und durchsichtig, ein Teil der grauen See. Einige der Briefe bleiben am Strand, wickeln sich um die größeren Steine, andere werden von den Wellen nach draußen getrieben. Ich greife nach der Ampulle. Mit aller Kraft werfe ich sie von mir weg, schleudere sie hinaus in die Fluten, wo sie mit einem glucksenden Geräusch untergeht.
    Eine Zeitlang starre ich auf jene Stelle, wo sie versunken ist. Dann gehe ich zurück zu dem rostigen blumenumwucherten Laster. Auch dieser Brief wird den anderen folgen.
    Max
     
    Liebste Julee,
    das letzte Blatt. Der Bleistift gibt seinen Geist auf. Ich

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