Nimmermehr
habe eine abgrundtiefe Traurigkeit gestreift, gleiten die saftig grünen Hügel der Highlands dahin. Der Himmel ist grau, und ich schaffe es nicht, den Blick von dieser Landschaft abzuwenden. Fast ist es, als sähe ich in einen Spiegel hinein. Da draußen gibt es keine fröhlichen Farben, und das Gesicht, das mir aus dem spiegelnden Fenster entgegenstarrt, ist das einer Fremden. Jene Maxine MacLachlan, die Du einst kanntest, ist vom Angesicht der Erde verschwunden. Die Augen besitzen nicht länger die funkelnde Unbekümmertheit. Jetzt sind sie kalt und misstrauisch. Wie die Welt da draußen. Es würde Dir nicht gefallen, was aus Deiner alten Freundin geworden ist.
Trotzdem schreibe ich Dir (entschuldige die verwackelte Schrift, aber das andauernde Schaukeln des Zuges lässt mich keine graziösen Buchstaben zu Papier bringen). Fast glaube ich, dass ich es Dir schuldig bin. Mich einfach so davonzustehlen, ohne ein Wort des Abschieds, wäre nicht richtig.
Wie gern würde ich jetzt mit Dir reden. Vielleicht würde mir das helfen. Wir säßen auf der alten Matratze unter dem Fenster, in der Wohnung in der Govan Road, ließen die Blicke hinunter zum River Clyde treiben. Die guten alten Zeiten: Julee Baker und Maxine MacLachlan, das beste Team der Strathclyde University, verschwiegene Verschwörerinnen, schattenhafte Nachtschwärmer in den rauchigen Pubs von Glasgow. Damals hätte ich einfach über meine Probleme geredet, bei einer Tasse Tee mein Herz ausgeschüttet. Damals, nicht heute.
Ich habe alle Brücken hinter mir abgebrochen und stürme nach vorn.
Die Dampflokomotive lässt ein schrilles Pfeifen hören, das Zeichen dafür, dass der Zug bald an seinem Ziel sein wird: Kyle of Lochalsh, Fischerdorf und Tor zu den Hebrideninseln. Mit ein wenig Glück erwische ich die Zwölf-Uhr-Fähre nach Skye. Während der Überfahrt finde ich (hoffentlich) die Zeit, die Gedanken dieses Briefes fortzuführen.
Bis dahin
Deine Max
Lieber Thomas,
wundert es Dich, von mir zu hören? Die Entscheidung, Dir zu schreiben, fiel mir nicht leicht. Dann tauchte das Problem der Anrede auf: sollte ich Dich »Sean« nennen (wie in den Stunden stiller Zweisamkeit) oder besser »Thomas« (wie ich es immer dann tat, wenn ich verärgert war). Wie dem auch sei – es gibt mich noch. Ich habe die Reise angetreten. Man muss diejenigen Dinge tun, vor denen man Angst hat. Erinnert Du Dich? Deine Worte!
Es ist alles so erschreckend vertraut: die Küste mit dem
Leuchtturm vom Hafen verschwindet langsam im wabernden Nebel, der auf dem unruhigen Wasser treibt; der tote salzige Geschmack des Meeres liegt in der kalten Luft; unter mir schaukelt die Fähre im Takt der See. Erinnerst Du Dich daran? Es waren glückliche Tage. Wir waren zu allem bereit gewesen, ehrlich und offen. Die Welt hatte uns gehört. Vielleicht möchte ich einen Hauch dieser Zeit schnuppern oder einfach nur an einem Ort sterben, mit dem ich eine wunderbare Erinnerung verbinde, an dem ich nichts weiter fühlen muss als die Vergangenheit. Eben stand ich an der Reling und blickte nach unten in die Tiefe, auf die in sich zusammenstürzenden Wellenkämme. Der Wind war in meinem Haar, das ich mir letzte Woche habe stutzen lassen (meine Kollegin konnte sich die Bemerkung, ich sähe aus, als wolle ich in die Armee eintreten, nicht verkneifen). Eine seltsame Stimmung: als wäre das Glück von damals noch da draußen, als könne ich es greifen und schmecken.
Hast Du Dir jemals Gedanken darüber gemacht, was aus meinem Leben werden würde? Ich hasse Dich! Für alles. Und ich vermisse Dich. Ich vermisse Deine Hände.
Erinnerst Du Dich? Ich umfasste Deine Handgelenke und führte die Hände an mein Gesicht, sodass die Fingerspitzen sanft die Haut berührten, Augen, Nase, Mund. Ich habe ihnen vertraut, Sean, Deinen Händen; ihnen und den strahlend blauen Augen. Dein irischer Blick. Ich vermisse ihn so. Ich hasse ihn. Ich wollte, es hätte ihn nie gegeben.
Deshalb bin ich jetzt hier, eine Reisende, die den Blick nach vorn richtet, dorthin, wo sich der keltische Nebel lichtet und die Sicht freigibt auf eine zackige, unregelmäßige Küste, wo das Meer tosend gegen die schwarzen Klippen schlägt. Die Insel Skye taucht aus dem Nebel auf, in all der Schönheit, die mir schon damals den Atem raubte.
Baleshare – es klingt fast wie ein Zauberwort. Erinnerst Du Dich an Baleshare? Dorthin reise ich. Dort wird alles enden.
Die Fähre läuft in den kleinen Hafen von Kyleakin ein. Die Zeit drängt.
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