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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Mit welchen Worten soll ich diesen Brief nun beenden?
    Lebwohl Max
     
    Liebste Julee,
    ich habe Skye erreicht. Ich sitze an einem Anlegeplatz für die Fischerboote im Hafen von Kyleakin, einem tristen Ort an der Ostseite der Insel, den Rucksack zwischen den Beinen und den Notizblock auf dem Schoß. Die Leute hier werfen mir neugierige Blicke zu: ich bin eine Fremde. Ich hocke nur da und schnuppere die See, bewundere die massige Bergkette, die Cuillin Hills, tagträume mich in diese Wildnis hinein. Eine seltsame Ruhe hat mich befallen. Da sind die Fischer, die ihre Boote be- und entladen; die wenigen Touristen, die gleichfalls mit der Fähre (die den poetischen Namen »Prince Bonnie« trägt) angekommen sind, lungern untätig herum, am Himmel versammeln sich Möwen in Schwärmen über den Kuttern und kreischen nervös. Für einen Moment habe ich die Augen geschlossen und gebe mich den Geräuschen hin: Vogelgekreisch, Wellenschluchzen und Motorengeknatter. Die Vergangenheit wird greifbar. Ich stehe mit Sean da, gleich dort hinten vor dem Haus der Hafenaufsicht, er hat seine Arme um mich geschlungen, wir sind eben erst angekommen, ich frage mich, was geschehen wird in den nächsten Wochen, die wir in einer Herberge in Porttree verbringen werden, um von dort aus die Inseln zu erkunden.
    Was geschieht nur mit mir? Ich spüre das Leben und habe Angst davor.
    Kyleakin werde ich bald hinter mir lassen. Ich werde einen Einheimischen darum bitten, mich nach Dunvegan mitzunehmen, einen Ort an der Westküste von Skye. Von dort aus nehme ich eine Fähre, die mich nach Lochmaddy auf der Insel North Uist bringen wird. Sechs Meilen entfernt von Lochmaddy an der Küste liegt Baleshare. Wenn ich dort angelangt bin, werde ich einen allerletzten Blick hinaus auf das Meer werfen.
    Welches Gefühl wird es wohl sein? Ich fürchte mich vor diesem Augenblick.
    Julee, ich muss mich auf den Weg machen.
    Deine Max
     
    Martin und Anne MacLachlan!
    Ich hasse Euch! Um Missverständnissen vorzubeugen: ich bereue keinen meiner Schritte! Nicht einen einzigen! Alles missfiel Euch: meine Entscheidung, Theaterwissenschaften in Glasgow zu studieren, meine Beziehung zu Thomas. Alles, was mir am Herzen lag, musste ich mir gegen Euren Willen erkämpfen. Dass wir uns fremd wurden, hat sich nie vermeiden lassen. Es war Schicksal. Wie alles, was passiert ist. Als Tochter eines Parlamentsabgeordneten hat man es eben nicht einfach. Es ist wichtig, was die Leute denken. Eine seltsame Ironie, dass Ihr Thomas wenigstens »geduldet« habt (ausgerechnet ihn). Bittere Ironie, dass Daddy gerade bei ihm mit seinem Beruf angeben musste. Ironie und Schicksal. Letzten Endes brachte mich all das hierher. Ich werde Euch nicht vermissen. Ihr mich hoffentlich schon.
    Die Tochter!
     
    Liebste Julee,
    der erste Tag der Reise neigt sich dem Ende zu. Ich habe Dunvegan erreicht. Ein Schafzüchter aus Uig, der in Kyleakin eine Ladung Stacheldraht abholte (die drei Rollen Draht waren ebenfalls an Bord der »Prince Bonnie« gewesen), bot sich freundlicherweise an, mich den halben Weg bis nach Dunvegan mitzunehmen. Der Mann war alt und wortkarg und fuhr einen klapprigen grünen Rover, der uns auf der schlammigen unebenen Straße unsanft durchschüttelte. Das Innere des Wagens roch scharf nach Schafen, Tabak und Torf. Zehn Meilen hinter Kyleakin gabelt sich die einzige Straße ins Innere der Insel. Dort stieg ich aus. Ein leiser Nieselregen lag wie ein grauer Vorhang über der Insel, und das satte Grün der Gegend ließ mich tief durchatmen. Die nächsten drei Meilen legte ich zu Fuß zurück. Meine Stiefel versanken bis zu den Knöcheln im Schlamm, und das Gehen wurde anstrengender, als ich es mir vorgestellt hatte. Nach einer Stunde mühsamer Wanderung kam endlich ein Wagen die Straße entlanggekrochen. Der Fahrer, ein Fischer aus Dunvegan, der mitsamt Frau und quengelndem Kind den gesamten Platz in der engen Fahrerkabine seines Lasters beanspruchte, ließ mich nach hinten auf die Ladefläche klettern, wo ich den Rest der Reise zwischen geflickten Netzen, die allesamt nach Fisch stanken, verbrachte.
    So erreichte ich etwa vor einer Stunde Dunvegan.
    In der Ortsmitte, ganz in der Nähe der hölzernen Kirche, habe ich mich für die Nacht in einer Herberge einquartiert. Es ist so seltsam, hier zu sein. Damals, als ich mit Sean reiste, war Dunvegan nicht mehr als ein zehnminütiger Aufenthalt, ein Ort, an dem wir die Zeit totschlugen, bis das Schiff uns zu den äußeren Inseln brachte.

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