Nimmermehr
Kaiserin würdig ist, nahm ich die Neuigkeit entgegen und informierte den Kaiser. Vorher ließ ich seine Geliebte, die Schauspielerin Schratt, kommen, damit sie ihm Trost spenden mochte. Ich trauerte mit der Baronin Vetsera um ihre Tochter. Ärzte bescheinigten Rudolf eine Geisteskrankheit, da dem »Selbstmörder« ansonsten die kirchliche Beerdigung verwehrt worden wäre. Die Leiche des Kronprinzen wurde in seiner Wohnung in der Hofburg aufgebahrt, wo ich stundenlang neben dem Sarg saß und düsteren Gedanken nachhing. Ich betrachtete das wächserne Gesicht, und jener Anblick machte mir bewusst, dass mir das Leben erhalten bleiben würde.
Haben Sie je eine Leiche betrachtet? Auf allen toten Gesichtern ruht ein Ausdruck von Schmerz und Hohn. Es ist der Hohn des Siegers über das Leben, das so viel Leiden mit sich gebracht und das man endlich überwunden hat. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, ich könne Rudolf einen Gefallen getan haben. Ich hatte ihm den Tod geschenkt. Und war selbst mit dem Leben gestraft worden. Da entsann ich mich der Worte, die mir mein englischer Freund Lord Ruthven einst bei Kerzenschein und Absinth zugeflüstert hatte: Das große Ziel des Lebens ist das Empfinden; zu spüren, dass wir existieren, wenn auch unter Schmerzen; es ist diese sehnsuchtsvolle Leere, die uns antreibt. Guter Freund, hättest Du nur in diesem Augenblick der Schwäche bei mir sein können. Andrássy war, so hörte man, schwer erkrankt. Er tat das, was auch mir bald bevorstehen würde. Er inszenierte langsam und vorsichtig seinen Tod. Einzig die liebe Ida Ferenzcy hielt meine Hand, als Rudolfs Leichnam der Kaisergruft übergeben wurde.
Gleich neben seinem stand der Sarkophag der Kaisermutter, und dort sollten auch der Kaiser und ich einst enden.
Zum ersten Mal wurde ich mir des Problems bewusst, dem sich alle unserer Gattung irgendwann zuwenden müssen – und glauben Sie mir, es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieses Problem ausgerechnet der Tod ist. Andrássy ging ein Jahr nach Rudolfs Selbstmord dahin, nachdem er elegant ein langes Leiden vorgetäuscht hatte. In den letzten Monaten vor seinem Dahinscheiden unternahm er keine Beutezüge mehr, wodurch seine Haut blass wurde und er kränklich wirkte. Er tat dies, ohne von mir Abschied zu nehmen. Nicht einmal Ida konnte mir sagen, was aus ihm geworden war, wohin es ihn verschlagen hatte – und, weitaus interessanter, unter welchem Namen er sich von nun an durch die Zeit bewegte. Ich vermisste ihn, und je länger er mir fernblieb, meinen Freund und Ratgeber. Und ich entsann mich seiner Prophezeiung – jener, die vom Untergang der alten Welt gekündet hatte. Wie recht er doch gehabt hatte. Mit Rudolfs Tod nun schien Österreich-Ungarns Zukunft gestorben zu sein. Die Welt hörte auf, sich zu drehen.
Ich verschenkte alle meine bunten Kleider, Schirme, Schuhe und alles, was Schmuck und Putz war, an meine Töchter Gisela und Valerie. Ich trug nur mehr Trauerkleidung, versteckte mein Gesicht hinter einem schwarzen Schleier und bereiste die Welt. Nie hielt es mich lange an einem Ort, und selbst das Achilleion auf Korfu konnte meinem Innersten keinen Frieden bringen. Einmal stattete mir Vathek dort einen Besuch ab, zwei Jahre nach dem Tod seiner ungarischen Identität. Es war nur ein kurzes Zusammentreffen, unpersönlich und voller Eile. Er befand sich in Begleitung Lord Ruthvens, mit welchem er Griechenland und die Türkei bereiste – eine Reise, die Ruthven schon vor Jahrzehnten unternommen hatte. Danach wollte er nach England gehen, nach London, in die Stadt der Schornsteine.
Und ich?
Ich lebte mein Leben.
Doch es war ein grausames Leben geworden, meine Zuhörer. Den öffentlichen Ämtern hatte ich entsagt, ließ mich nur einmal noch zur Tausendjahrfeier Ungarns vom Pöbel feiern. Als Ida Ferenzcy mir von einem jungen Mann berichtete, dessen Hass auf den Adel so groß sei, dass er kurz davor stand, sich selbst und alle moralischen Bedenken zu vergessen, und schon seit längerem mit dem Gedanken an ein Attentat schwanger ging, horchte ich erfreut auf. Ida unterrichtete mich davon, während wir zu einer vierwöchigen Kur in Montreux weilten. Es war Anfang September des Jahres 1898, als ich während eines Spazierganges zum ersten Mal den Namen jenes arbeitslosen italienischen Hilfsarbeiters hörte, der mich von den Qualen meines Lebens erlösen sollte: Luigi Lucheni.
Über eingeweihte Mittelsmänner ließ Ida dem arbeitsscheuen Individuum zu Ohren kommen, dass
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