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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Naunheim.« Sie war mir ganz nah, und ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der eisigen Luft der Kammer. »Eines Tages wollten die Kinder aus Naunheim ihren Vätern, die im Steinbruch gierig schürften, das Essen bringen. Da tauchte das Lamm wieder auf. Die Kinder freuten sich darüber und riefen so laut, dass die Männer früher als gewöhnlich aus dem Steinbruch herauskamen. Doch kaum waren sie bei ihren Kindern, da stürzte die steil aufragende Wand des Steinbruchs in sich zusammen und begrub alles Arbeitsgerät unter den Geröllmassen. Die Kinder berichteten von dem weißen Lamm, und die Männer, aus deren Gesichtern mit einem Mal Habsucht und Neid verschwunden waren, nahmen ihre Kinder in die Arme. Alle waren entsetzt, knieten sich auf der Stelle nieder und dankten Gott dafür, dass er ihnen das Lamm gesandt hatte.«
    »Was geschah mit ihm?«
    »Dem Lamm?«
    »Ja.«
    »Es wurde niemals wieder gesehen.« Sie lächelte. Ganz zauberhaft. »Und der Granat, den man gefunden hatte, wurde gesegnet und in die Grundfesten dieser Burg eingemauert.« Der Klang ihrer Stimme füllte die Kammer aus. »Irgendwo dort unten muss er noch immer sein. Der magische Granat aus den Feldern von Naunheim.«
    »Deswegen nennst du die Burg so?«
    »Im Mittelalter bezeichnete man den Granat als Karfunkelstein.«
    Ich wiederholte den Namen, als enthalte er die Magie, die mein Leben so bitter nötig hatte. »Burg Karfunkelstein.«
    »Diese Mauern«, flüsterte Greta verheißungsvoll, »sind so voller Geschichten, Jonathan.«
    Es war schön, sie meinen Namen vollständig aussprechen zu hören.
    In der Schule rief man mich Pym. Wie den Reisenden in der Geschichte von Edgar Allan Poe. Kurz und bündig. Einfach nur Pym.
    »Du magst diese Geschichten?« Eigentlich war es keine Frage.
    »Ich bin nun einmal mit ihnen aufgewachsen.« Plötzlich fasste sie mich an der Hand und zog mich aus der Kammer. »Komm!«, drängte sie, und so folgten wir den spiralförmig absteigenden, schmalen Treppenstufen, dass mir beinah schwindlig wurde. Greta führte mich schnurstracks in den Rittersaal mit der schweren Eichenbalkendecke und den Familienwappen derer von Metzengerstein. Ein pechschwarzer Rabe zierte jedes der Wappen, funkelte mit seinem Dämonenauge in den Saal hinein. Der Rittersaal war, wie die meisten großen Räume der Burg, beheizt. »Einst diente dieser Raum den Bewohnern als Festsaal und Versammlungsort«, sprudelte es nur so aus Greta heraus. »Siehst du die Narrenmasken dort oben unter dem Mittelbalken und in den Ecken des Raums?« Ohne eine Antwort abzuwarten, erklärte sie: »Während der Verhandlungen herrschte Redefreiheit. Jeder durfte sagen, was ihm auf dem Herzen lag. Und dort hinten, siehst du die Schweigerose?« Ich betrachtete die in Holz geschnitzte Rose, die über dem Ausgang prangte. »Diese Rose tat kund, dass es eine Schweigepflicht gab. Niemand, der den Saal verließ, durfte über das, was hier drinnen gesprochen worden war, reden.« Sie sah mich mit ihren hellen Augen an. »Nun?«
    »Was meinst du?«
    »Du bist wirklich nicht sehr gesprächig, weißt du das?«
    Ich schwieg.
    »Etwas bedrückt dich, Jonathan, und du solltest darüber reden.«
    »Nicht jetzt.«
    Sie sah mich nur an.
    Ich wich ihrem Blick aus und betrachtete die fratzenhaften Narrenmasken und die Schweigerose. »Vielleicht später.«
    »Okay.« Erneut ergriff sie meine Hand und zog mich durch den Rittersaal, dorthin, wo ein riesiges Gemälde den Platz neben dem gleichermaßen riesigen Kamin zierte. »Das ist das Bildnis, von dem Großmutter sprach.« Es zeigte die Gabelung eines Weges in den Feldern, wo umgrenzt von dichten Sträuchern eine Bäuerin saß, die ein Kind in ihren Armen hielt. Zu ihren Füßen lag eine Karaffe, aus der sich Milch ergoss, und daneben ein Laib Brot.
    »Das ist das Bild, dessentwegen du hier bist.«
    »Ich?«
    »Dein Vater«, verbesserte sich Greta schnell. »Es ist das Bildnis des traurigen Junkers, weswegen er den Auftrag bekommen hat.«
    »Er ist aber nicht hier.« Die Bemerkung hatte ich mir nicht verkneifen können. »Er ist nie da, wenn …«
    Schweigend beobachtete sie mich.
    Irgendwie wissend.
    »Aber da ist kein Junker«, lenkte ich ab.
    »Das habe ich dir doch gesagt.«
    Ich trat näher an das Gemälde heran, bis ich die feinen Linien und Schattierungen in der Farbe erkennen konnte. Die dünne Staubschicht, die auf der Farbe lag, noch über dem etwas dunkleren, die Farben dämpfenden Firnis.
    »Er war dort, Jonathan«, erklärte

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