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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Greta mir und deutete auf die Stelle, an der die Karaffe mit der Milch auf dem Boden lag.
    »Du meinst, dass dort ein Ritter gemalt war?«
    Sie nickte.
    »Ein Junker«, verbesserte sie mich.
    »Und jetzt ist er fort?«
    Abermals das Nicken.
    »Wie soll das denn geschehen sein?«
    »Niemand kennt seine Geschichte.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Wenn die Geschichten der Menschen in Vergessenheit geraten, dann passiert dies auch mit den Menschen, von denen die Geschichte zu berichten wusste. Es ist so, als hätten sie niemals existiert.«
    »Es ist ein sehr altes Bild«, suchte ich nach einer Erklärung, noch ohne recht zu verstehen, worauf sie hinauswollte. »Vielleicht sind die Farben im Lauf der Jahre einfach nur verblasst.«
    »Schau!«
    Sie deutete auf die Stelle mit der Karaffe. Ein schmaler Schatten lag über dem Gefäß. Ein Schatten, der irgendwo seinen Ursprung haben musste. In dem Bildnis stand die Sonne hoch am Himmel. Etwas fehlte in diesem Bild. Etwas, das zwischen der Sonne und der Bäuerin sein musste.
    »Du glaubst, dass es der Junker war, der diesen Schatten geworfen hat?«
    »Ich weiß es.«
    »Aber wie kannst du es wissen?«
    Ihre Antwort hätte rätselhafter kaum sein können: »Weil der Junker gestern Morgen noch dort war.« Die Augen, die wie Eisblumen waren, fixierten mich, ganz traurig. Mit einem Mal schien Greta die Fassung zu verlieren.
    Trotzdem verstand ich nicht ganz, was sie mir da sagen wollte. »Niemand kann eine Figur aus einem Bild stehlen«, murmelte ich, war mir da aber nicht mehr so sicher.
    »Der Junker wurde nicht gestohlen.«
    »Sondern?«
    »Er ist gegangen«, sagte sie, und Tränen traten ihr in die Augen. »Einfach fort.«
    Ich schluckte.
    Was hatte das alles zu bedeuten?
    »Genau das, Jonathan, passiert«, presste sie mühsam die Worte hervor, »wenn man eine Geschichte vergisst.«
    Draußen heulte der Wind zwischen den hohen Gebäuden.
    »Ach, was soll’s«, murmelte sie mit einem Mal und wischte sich trotzig die Tränen aus dem Gesicht. »Warum erzähle ich dir das alles? Es hat ja doch keinen Zweck.« Sie holte tief Luft. »Du hältst mich doch für bescheuert.« Sie betrachtete das Bild und sagte: »Deswegen hat mein Vater einen Restaurator angefordert. Das Bild soll untersucht werden. Papa glaubt, dass der Junker nur von Schmutz verdeckt wird. Aber das ist Blödsinn. Der Junker ist weg, und niemand wird ihn mehr in dieses Bild zurückbringen.«
    »Greta?«
    »Ja?«
    »Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst.«
    Sie lachte.
    Irgendwie verzweifelt.
    »So richtig verstehe ich es selbst nicht.«
    Etwas kratzte an der Tür, durch die wir gekommen waren.
    »Das ist Zero.« Sie sprang zur Tür und öffnete sie. Der große Labrador steckte die Schnauze in den Rittersaal und bellte laut. »Großmutter bittet uns, nach unten zu kommen. Sie möchte dich gern kennenlernen. Außerdem gibt es heiße Schokolade und Stollen.«
    »Das alles hat Zero gesagt?«, fragte ich.
    »Nein.« Ein Lächeln deutete sich in den Winkeln ihres Mundes an. »Großmutter schickt Zero immer los, um mich zu suchen.« Sie tätschelte den Kopf des Hundes. »Und er nimmt seine Aufgabe sehr ernst.« Die letzten Tränen waren aus ihren Augen verschwunden, als sie sagte: »Komm, lass uns nach unten gehen.«
     
    Burg Karfunkelstein, wie ich meinen Aufenthaltsort insgeheim zu nennen begann, schien mehr Geheimnisse zu bergen, als ich vermutet hatte. Hans Grillparzer, dem als Kastellan der Burg deren Instandhaltung und Bewirtschaftung anvertraut worden war, hatte am Vortag das Verschwinden des traurigen Junkers aus dem Bild bemerkt und sogleich nach einem Restaurator gesucht, der sich des Problems fachgerecht würde annehmen können. Nach einigen Telefonaten, während derer er hatte feststellen müssen, dass es kaum eine Restaurierungswerkstatt gab, die spontane Aufträge über die Feiertage hinweg annahm, war er dann, den Branchenverzeichnissen sei Dank, an die Werkstatt Richard Morgenstern in Köln geraten.
    »Außer dem Bildnis des Junkers«, erklärte mir Greta später beim Abendessen, »gibt es hier noch einige andere Arbeiten zu erledigen. Ein Stuckspiegel aus dem Rokoko ist zu übermalen, und die stark abplatzende Fassung der Mutter Gottes Statue mit Punzierungen im Haus Kempenich ist zu erneuern. Glücklicherweise hat dein Vater den Auftrag angenommen.«
    Unglücklicherweise, dachte ich insgeheim, war ihm dann noch etwas dazwischengekommen.
    Bei Gretas Eltern ließ ich mir nichts anmerken.

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