Nimmermehr
Zumindest gab ich mir Mühe, möglichst unbeteiligt und erwachsen zu wirken. Greta aber konnte ich nicht täuschen.
»Du hast damit gerechnet, stimmt’s?«, fragte sie mich später.
»Es gibt immer einen Termin, der ihm dazwischenkommt.« Seit ich mich erinnern konnte, war das so gewesen. »Die Werkstatt ist ihm schon immer wichtiger gewesen.« Andauernd war da ein dringender Auftrag gewesen, der meinen Vater unabkömmlich gemacht hatte. Retuschierung einer Barockmalerei. Übermalung eines Stiftsaltars. Gemälde, Ikonen, Sakrales und Kurioses – so jedenfalls stand es in der Firmenbeschreibung. Skulpturen und Verkauf antiker Rahmen. Mein Vater stürzte sich auf alles, was alt war und vor dem Zerfall bewahrt werden musste.
»Er lebt inmitten seiner Pinsel, Tinkturen und Chemikalien.«
Mehr gab es nicht dazu zu sagen.
»Ist es schlimm für dich, die Feiertage hier verbringen zu müssen?«
Ich sah sie an. »Wer ist an Weihnachten schon gern allein?«
»Ich bin doch da«, sagte sie.
Lächelte aufmunternd.
Mir fiel auf, dass sie ein doppeltes Ohrläppchen hatte. Fünf silberne Ringe zierten es.
Ich nickte nur.
Und dachte über das seltsame Gespräch nach, das wir kurz nach unserer Ankunft mit Gretas Großmutter geführt hatten.
Luzia Grillparzer, die Zero ausgesandt hatte, um uns einzufangen, hatte im Wohnzimmer der Grillparzer’schen Wohnung den Tisch gedeckt. Alles roch genau so, wie es früher in der Mietwohnung meiner Großmutter gerochen hatte. Selbst das Porzellan war alt und schien einer anderen Zeit anzugehören.
»Willkommen in unserem bescheidenen Heim«, begrüßte sie uns. »Tretet ein und lasst ein wenig von dem Glück hier, das ihr beide mitbringt.« Sie lächelte, als wüsste sie von Dingen, die wir uns noch nicht einzugestehen bereit waren.
»Jonathan mag seine Kammer«, sagte Greta.
Höflich stimmte ich dem zu.
»Dabei ist es furchtbar kalt dort oben.« Luzia Grillparzer brachte die Dinge gern auf den Punkt.
Als wir eintraten, trottete Zero zu ihr und ließ sich den Kopf tätscheln. Der Hund fiepte wohlig und legte sich dann neben das prasselnde Kaminfeuer.
»Das mit deinem Vater tut mir leid.« Luzia Grillparzers Stimme war dem Kaminfeuer nicht unähnlich.
»Ja, mir auch.«
Schlohweißes Haar umrahmte ihr hageres faltiges Gesicht, und sie hatte die Augen eines jungen Mädchens: Gretas Augen. Ein Hauch aristokratischen Stolzes umwehte jede ihrer Bewegungen. »Erwachsene vergessen zuweilen, wie sie die Welt sahen, als sie einst Kinder waren.« Ein kühler Hauch von Eis und Schatten wehte mir entgegen, als sie das sagte.
Gezwungen lächelte ich. »Ich bin ja groß.«
»Bist du das?«
Ein Nicken, zu zögerlich, um aufrichtig zu sein.
Wir nahmen Platz.
Sie reichte mir ein Stück Stollen. »Niemand ist das, junger Jonathan«, widersprach sie mir mit der Stimme, die an knisterndes Holz erinnerte. »In unseren Herzen bleiben wir die Kinder, die sich an jedes Wort aus dem Mund ihrer Eltern erinnern und noch immer die Ungerechtigkeit spüren, die sie einst hat verzweifeln lassen.« Die hellen Augen wurden mit einem Mal ganz alt. »Ach, was rede ich denn da.« Jetzt zeigte Luzia Grillparzer das gleiche entwaffnende Lächeln wie ihre Enkelin. »Doch sag mir, wie gefällt dir die Burg?«
Bevor ich antworten konnte, bemerkte Greta: »Ich habe ihm das Bildnis des traurigen Junkers gezeigt.«
Neugierig musterte mich die alte Frau. »Hat Greta dir auch erzählt, was es mit dem Bildnis auf sich hat?«
»Sie hat mir gesagt, dass es keine Geschichte dazu gibt.«
»Ja, gestern Morgen war der Junker noch dort. Und das, obwohl keiner von uns jemals seine Geschichte vernommen hat.« Luzia seufzte. »Das ist das Problem, junger Jonathan. Wir kennen seine Geschichte nicht.« Bevor ich fragen konnte, was sie denn genau damit meine, fuhr sie fort: »Man muss die Geschichten einfach kennen, die sich um dieses Gemäuer ranken. Ganz wichtig ist das.« Die hellen Augen fixierten mich. »Kennst du die geheime Bedeutung, die man Geschichten zuschreibt, Jonathan?«
»Ich weiß nicht …«
Verstohlen warfen sich Luzia und Greta einen Blick zu.
»Es ist wichtig, dass wir uns der Vergangenheit bewusst sind. Wenn man hier lebt, dann wird einem das tagtäglich deutlich. Das Bildnis unten im Rittersaal ist nur ein Beispiel unter vielen. Ein alter Antiquitätenhändler aus Mayen hat die Geschichte des traurigen Junkers jedenfalls gekannt. Als mein Sohn das Bildnis vor vier Jahren für den Grafen erstand, da
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