Nimmermehr
erzählen.«
»Nein?« Sie blieb stehen und musterte mich.
»Nein«, antwortete ich.
»Das gibt es aber immer.«
»Was?«
»Etwas zu erzählen«, sagte sie, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Und weißt du was?« Für einen Moment war es, als wartete sie auf eine Antwort. »Es ist wichtig, dass wir unsere Geschichte erzählen. Damit sie nicht in Vergessenheit gerät.« Dann drehte sie sich um und stieg vor mir die Treppe hinauf.
Ich folgte ihr.
Bis wir zur Dachkammer kamen.
»Und?«
»Was meinst du?«
Die Schlittenhund-Augen fixierten mich.
»Gefällt sie dir?«
»Die Dachkammer?«
»Ja.«
Die Einrichtung war karg.
Ein kastenförmiges Bett mit Himmel, ein schmaler Stuhl, darunter ein staubiger Teppich, in der Ecke ein niedriger Schrank mit verschnörkelten Verzierungen, die ein Einhorn und eine Jagdgesellschaft erkennen ließen. Das Fenster war schmal wie ein zusammengekniffenes Auge und tief in die Wand eingelassen.
Ich stellte meinen Koffer ab.
»Bist du müde?«
»Ja, bin ich.«
»Wie wäre es mit einer heißen Schokolade?«
»Unten bei deiner Großmutter?«
»Und selbst gebackenem Stollen.«
Eisig kalt war es in der Kammer. Hier oben würde ich wohl kaum den Rest des Tages verbringen.
»Ja, ich bin dabei.«
»Wirst du mir deine Geschichte erzählen?«
»Du bist ganz schön neugierig«, stellte ich fest.
Und lächelte, damit sie es nicht missverstand.
»So bin ich eben. Großmutter sagt, dass ich jedem meine Geschichten erzählen muss, ob er sie nun hören will oder nicht.« Sie lächelte zurück. Senkte den Blick, nur kurz. »So ist das.«
Ich rieb die dünne Eisschicht vom Fensterglas. Eisblumen funkelten, als sei der Frühling erstarrt.
Draußen war nichts als das Wirbeln dicker weißer Flocken zu erkennen.
»Weißt du, wie ich die Burg nenne?«
Ich sah sie an.
»Ich nehme an, du wirst es mir sagen.«
Fast war es ein Flüstern: »Burg Karfunkelstein.«
»Das klingt jetzt wirklich wie in einem der alten Märchenfilme.«
»Finde ich auch.«
»Willst du wissen, warum?«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Du wirst es mir bestimmt sagen.«
»Ja«, antwortete sie, »das werde ich.«
Mit einem Mal fiel mir auf, wie hübsch sie war.
»Es ist nur eine kurze Geschichte.«
»Nun erzähl sie schon.«
Sie hatte es doch tatsächlich geschafft, mich neugierig zu machen. Köln wirkte mit einem Mal so unendlich weit entfernt. Irgendwie beschlich mich das Gefühl, als sei ich in einer neuen Welt angekommen.
»Als man Burg Metzengerstein errichtete«, begann Greta, und ihre Worte vermischten sich in meinen Gedanken mit den Schneeflocken, die wirbelnd die alten Zeiten zwischen die Eisblumen malten, »da suchte man nach einem geeigneten Gestein für die Fundamente dieser Burg. Einem Stein, der Wind und Wetter trotzen sollte. Bei der Suche der Steinmetze danach stießen sie auf der Höhe von Naunheim immer wieder auf ein weißes Lamm, das im Gebüsch verschwand, sobald man sich ihm näherte. Niemand schenkte dem Tier so richtig Beachtung, bis eines Tages ein Mann dem Lamm ins Dickicht am Wegesrand folgte. Er zwängte sich durch das dornige Gesträuch, bis er schließlich vor einem zerklüfteten Felsen stand, den das abfließende Regenwasser von Erde und Laub befreit hatte.«
Ich rieb mir die Hände.
»Der Mann klopfte mit seinem Stock gegen den Stein und vernahm einen hellen Klang. Dann begann der Stein mit einem Mal zu glühen, tiefrot, als sei er das Blut der Erde. Schnell entstand ein Steinbruch an jener Stelle, weil sich die Menschen natürlich erhofften, noch weitere dieser rot funkelnden Steine zu finden.«
»Was war es für ein Stein?«
»Ein riesengroßer Edelstein.« Gretas Augen leuchteten auf, und es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, welche Art von Kind sie einst gewesen war. »Ein wunderschöner Granat von allerdunkelstem Rot.«
»Was geschah mit ihm?«
»Man brachte ihn hierher. An die Stelle, wo der Breitenbach sich um den Felsen schlängelt.«
»Und der Steinbruch?«
»Die Menschen gruben tief in die Erde hinein, fanden aber keine weiteren Granate. Nur grauen Basalt und schwarzen Schiefer, den es hier in der Gegend zuhauf gibt. Aber die Gesichter der Menschen hatten sich nach dem Fund verändert. Man erkannte Gier in ihnen, bitterste Habsucht und nagenden Neid.« Sie trat neben mich an das Fenster und folgte meinem Blick hinaus in die hereinbrechende Dämmerung. »Dort drüben ist es gewesen. Dort liegt
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