Nimmermehr
diesen Mauern zugetragen haben.« Gretas Augen leuchteten. »Du kannst heute Abend darin lesen, wenn es dich interessiert.« Sie gab mir das Büchlein, das an seinem Platz auf dem Sofa hinter dem Kissen wohl nur darauf gewartet hatte, mir überreicht zu werden.
Der Titel war schlicht und prangte in geschwungenen Lettern auf einem schwarzen Einband:
Metzengerstein
von Luzia Grillparzer
Das Büchlein war leicht, und als Greta es mir überreichte, da berührten sich für einen winzigen Augenblick unsere Finger und ließen mich einen flüchtigen Blick auf die Ewigkeit erhaschen. Nach altem Papier roch das Büchlein, wie die Bücher, Comics und Groschenromane, die ich als Kind auf dem Dachboden in unserem Haus in Köln nahe dem Severinstor gefunden hatte. Beinah schon automatisch schlug ich es auf und warf einen Blick ins Innere, studierte Inhaltsverzeichnis und Widmung. Matthias Grillparzer
stand da geschrieben. Nichts sonst. Auf Seite drei, die unbe-druckt war bis auf diesen Namen.
»Das ist mein Großvater.« Greta hatte mich beobachtet.
Ich schaute auf, fühlte noch immer das raue alte Papier unter meinen Fingern.
Luzia Grillparzer sagte: »Das ist eine lange Geschichte. Du wirst sehen, Jonathan, dass sich hinter manchen Worten eine ganze Welt verbergen kann.« Schatten tummelten sich in ihrem Gesicht. »Er ist schon lange tot, mein Matthias. Aber Geschichten hat er immer gemocht.« Ein eisiger Hauch wehte durch den Raum, und einen kurzen Moment lang suchte ich nach einer geöffneten Tür oder einem Fenster, das einen Spaltbreit gekippt war.
»Was hast du?«, erkundigte sich Greta.
»Es ist kalt.«
»Da ist nichts«, sagte Luzia.
Betreten schaute ich auf das Büchlein.
»Wenn du möchtest, dann werde ich dir von ihm erzählen.« Verstohlen zwinkerte sie ihrer Enkelin zu. »Aber nicht heute.« Das Kaminfeuer spiegelte sich in den Eisblumenaugen der alten Frau. »Nein, nicht heute.«
»Du wirst dich noch an all die Geschichten, die wir zu erzählen haben, gewöhnen.«
»So sind die Grillparzer-Frauen eben«, ergänzte Luzia. »Wir reden gern.«
Was ich mittlerweile bestätigen kann.
Denn in der Stunde, die ich in der Wohnung der Familie verbrachte, plapperten Großmutter und Enkelin pausenlos auf mich ein. Anekdoten von Greta, die als Kind durch die labyrinthischen Gänge hopste. Geschichten aus den Wäldern, in denen sich die Burg versteckte. Erzählungen von Beutereitern, die auf der Suche nach dem legendären Karfunkelstein aus dem Breitenbachtal gewesen waren, von dem selbst Hildegard von Bingen zu berichten gewusst hatte. Geheimnisse, die sich in den Dörfern auf dem Maifeld bei Kerzenschein zugeflüstert worden waren. Von den Wölfen, die in den harten Wintern vor Hunderten von Jahren den Wanderern aufgelauert hatten.
»Der Märchen gibt es viele.« Bevor Gretas Eltern zur Burg zurückkehrten, entschuldigte sich Luzia, weil sie im Refugium Scriptorium noch zu arbeiten habe. »Elisabeth von Metzenger-stein ruft nach mir.«
Greta erklärte mir später, dass ihre Großmutter an einem ganz neuen Buch arbeite. »Sie will die Geschichte des legendären unglückseligen Burgfräuleins ganz genau aufschreiben. Jede freie Minute widmet sie dieser Tätigkeit. Du wirst schon sehen.« Dann bat sie mich, das Gespräch mit Luzia Grillparzer nicht zu erwähnen, wenn ihre Eltern eintreffen würden. »Es hat viel Streit in den letzten Monaten gegeben.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon wieder so eine Geschichte«, meinte sie verlegen. »Als hätten wir nicht schon genug geplappert.«
»Ich werde nichts sagen«, versprach ich.
»Danke.«
Wir sahen uns an.
Beide hatten wir Geschichten, die darauf warteten, erzählt zu werden.
Und beide wussten wir, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür war.
»Du plauderst eben gern«, stellte ich schließlich fest.
»Ja.«
»Ich eigentlich auch.«
»Aber nicht immer.«
»Nein.«
»Nicht heute.«
Ich nickte.
Schluckte.
Hoffentlich, dachte ich, merkt sie mir nichts an.
Als Greta den Streit ihrer Eltern mit Luzia erwähnt hatte, da war etwas ganz tief in mir drinnen zerbrochen. Ein gläsernes Ding, das niemals wieder richtig ganz werden würde.
Niemals.
Nimmer.
Nimmermehr.
Greta, die Scherben erkannte, wenn sie welche sah, flüsterte nur: »Ist schon okay, Jonathan.«
Dabei ließen wir es bewenden.
Und das war gut so.
Ich schlief unruhig in jener Nacht.
Es war eisig kalt in der Kammer, und draußen heulte der Wind um die
Weitere Kostenlose Bücher