Ninis - Die Wiege der Baeume
Faustwaffen aus den Ärmeln gleiten, die sich dicht an ihre Unterarme anfügten. Sie blickten zu ihm, er wusste genau welche Grenze er gerade überschritten hatte. Seine Garde zog ihre Breitschwerter, sie waren zu allem bereit.
Manoos sah die Gefangene, in Eisenketten am Boden kauernd. Die Seherinnen hatten sie an die Wand gefesselt und den Kopf mit einem groben Leinensack verhüllt. Er zog seinen Bidenhänder und zerschlug die Ketten, die scheppernd auf den Boden fielen.
Sie zuckte zusammen, umschloss mit den Händen schützend ihre Knie und rutschte nach hinten an die Wand.
Der Schwerthieb blieb nicht ungehört. Türen knarrten zahlreich, rasch füllten bewaffnete Seherinnen und weitere Gardisten den Gefängnistrakt. Mitten im Trubel befand sich Serpent, der etwas sagte, was ihn aber nicht interessierte.
Siria bahnte sich einen Weg durch die Menge, wobei ihr Unmut ihr unübersehbar vorauseilte. „Ich hatte Euren Plan anders in Erinnerung, Prinz Serpent! Eine zerborstene Gefängnistür gehörte jedenfalls nicht dazu, oder habe ich etwa ein Detail übersehen?”
„Er hat sich …”
„… genommen, was er wollte. Das sehe ich selbst!” Siria wandte sich ihm zu. „Dalor, was soll das? Sie ist die Gefangene des Ordens. Euer Gefolge richtet Waffen gegen Seherinnen! Habt Ihr etwa Todessehnsucht?”
„Nein! Schaut Euch doch um!”
„Ich sehe zwölf Seherinnen aus Amones Leibwache und etwa fünfundzwanzig Eurer Schlächter! Wollt Ihr wirklich herausfinden, wie das ausgeht?”
„Mir sind die Kampfkünste der Seherinnen bekannt. Ich will nicht kämpfen!”
„Dann solltet Ihr jetzt gehen. Ihr seid der Held von Moresene! Wie sollte ich Eurem Vater erklären, warum Ihr in Stücken heimkehrt?”
Manoos blickte sie an: „Siria, seid Ihr Euch sicher, dass es eine gute Idee ist, Euer Schicksal zu fordern?” Er drehte ihr den Rücken zu. Sie sollte begriffen haben, dass sie ihn nicht aufhalten würde.
Er bückte sich und umfasste langsam die weißen Hände von Amun'ral. „Ganz ruhig, niemand legt dich mehr in Ketten.”
Aus dem Augenwinkel sah er Siria, die wiederum eine Seherin anblickte, die weiter oben an der Treppe Einblick in das Deck über ihnen hatte. „Wie viele seiner Krieger sind da oben?”
„Alle!”, sie schluckte, „Ehrenwerte Siria, wie ist Euer Befehl?
In der Mimik von Siria taten sich Abgründe auf, sie murmelte etwas Unverständliches und stampfte mit dem Stock auf den Boden.
Die Renelaten, die Manoos folgten, hielten die Schwerter hoch und ließen ihre Gegenspielerinnen nicht aus den Augen. Die Seherinnen, deutlich in der Unterzahl, trotzten ihnen mit Todesverachtung.
Siria zögerte. Manoos hoffte auf ihre Vernunft, er entfernte dessen ungeachtet die Reste der Ketten und den Sack, der das Gesicht von Amun’ral verdeckte. Ihre Haut und ihre Haare wirkten blass, sie schien müde zu sein und zitterte zudem am ganzen Körper. Er nahm ihre Hand und zog sie langsam nach oben.
Sie stand vor ihm und berührte seine Wangen.
Wie der Schlag eines Zitteraals, er zuckte kurz, ließ sie aber gewähren. Ihre Finger fuhren über seine Stirn, die Augen, die Nase und seinen Mund. Er ließ sie seine Narben fühlen. Siria schüttelte den Kopf, die Alte wehrte sich noch. Die Situation zog die Kontrahenten in eine unwirkliche Stimmung, die Augen der Soldaten, die einen Augenblick vorher noch auf jedes Muskelzucken ihrer Gegner reagiert hatten, wanderten nun entspannt auf sein Mädchen. Die weiße Patina ihrer Haut begann zart zu leuchten. Manoos schloss die Augen, genoss die Berührung wie eine Erlösung aus einem fortwährenden Albtraum. Ihre Hände glitten an seinen Wangenknochen, dem Hals, seinen Schultern und Armen hinab. Sie berührte seine Verletzungen, die schlecht verheilten Knochenbrüche der linken Schulter und seinen verfluchten linken Arm.
„Das ist schwarze Magie, das ist …”, zeterte Siria – doch keiner reagierte. Die Waffen sanken zu Boden, die Seherinnen fielen demütig auf die Knie.
Wärme durchfuhr ihn. Manoos riss sich mit seinem linken Arm die Lederschlinge vom Gürtel und nahm sie auf die Arme. Zart legte sie den Kopf auf seine Brust und umschloss seinen Hals. Er verließ das Gefängnisdeck, ohne dass ihn jemand daran hinderte. In den Mienen seiner Männer sah er eine Zufriedenheit, die er in dieser Art noch nie erlebt hatte.
„Das kann nicht sein, das kann nicht!” Siria schaute ihm hinterher. „Ach, lasst sie gehen!”
Manoos brachte sie in ein anderes Quartier.
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