Ninotschka, die Herrin der Taiga
Verbannten an, die stumm und schutzlos auf der Erde hockten, »wir warten hier, bis der Gouverneur uns neue Befehle schickt. Bedankt euch bei dem, der Gyrewski die Kehle durchgeschnitten hat!«
Aber niemand kannte den Mörder. Borja Tugai und Fürst Trubetzkoi befragten ihre Mitgefangenen – keiner wollte es gewesen sein. Und da auch die Gremina nicht wußte, wem sie das Messer zugeworfen hatte – ein kleiner, gebückt gehender Mann sei es gewesen, hatte sie gesagt, und davon gab es viele beim Transport –, blieb der Täter unentdeckt.
»Das ist ein gefährliches Spiel mit dem ganzen Einsatz«, sagte die Fürstin Trubetzkoi ernst. »Wer weiß, was jetzt aus Irkutsk auf uns zukommt.«
»Und wann!« Ninotschka starrte hinüber zu den Lagerfeuern der Männer. Zwischen ihnen und ihr lag die Abteilung der Kosaken wie eine lebende Mauer. »Wann, meine Liebe? Wie lange halten wir es hier aus? Zwei, drei, vier Wochen? Wir werden zu Eiszapfen frieren, wenn das Holz verbrannt ist. Und wo ist die nächste Poststation?«
»Man erringt keinen Fortschritt, ohne ein gewisses Risiko einzugehen«, antwortete die Trubetzkoi leise.
»Ist Gyrewskis Tod denn ein Fortschritt?« fragte Ninotschka. »Was wird nach ihm kommen? Und ist Mord immer die beste Lösung?«
»Durchaus nicht.« Die Trubetzkoi trank einen Schluck heißen Tee. »Aber wir sind in einem Land, wo nur das Überleben zählt. Moralische Bedenken können Selbstmord sein.«
Nach zehn Tagen kamen die Reiter aus Irkutsk zurück. Sie brachten einen vierten mit, eingemummt in einen dicken Pelz, der seine Gestalt wie die eines Bären wirken ließ.
Erst als er näher kam, erkannte ihn Ninotschka.
»Globonow!« schrie sie hell. Ihr Aufschrei alarmierte das Lager. Von allen Seiten rannten die Frauen herbei und starrten den Waldweg hinunter. »Es ist Globonow! Seht nur, das Holzbein! Man schickt uns Globonow zurück!«
»Gott hat unser Flehen erhört«, sagte die Fürstin Wolkonsky. »Wir sollten nachher einen Dankgottesdienst halten. Globonow … das heißt, daß wir Sibirien überleben werden.«
Nikolai Borisowitsch stieg aus dem Sattel, als er das Frauenlager erreicht hatte. Sein Gesicht war rot von der Kälte, seine Glieder steif gefroren, trotz des Pelzmantels. Mühsam nur kam er herunter.
»Man hat keine Ruhe!« brüllte Globonow, kaum daß er stand. »Warum kann ein alter Mann, der nur noch ein Bein hat, nicht in den wohlverdienten Ruhestand treten? Aber nein, da schneiden blutrünstige Weiber jemandem die Kehle durch, und ich soll sie wieder zur Vernunft bringen! Meine Damen, ich bin enttäuscht! Ich hatte mich so auf einen schönen Lebensabend gefreut. Ich wollte meine Pfeife rauchen, im Baikalsee Fische fangen, an einem Buch schreiben … und was muß ich nun tun? Sibirien erobern!«
»Lassen Sie sich küssen, Nikolai Borisowitsch«, sagte die Trubetzkoi und umarmte Globonow. »Sie kommen wie ein Engel direkt vom Himmel!«
In den nächsten Minuten hatte der Oberst keine Zeit, weiterhin sein Schicksal zu verfluchen. Er wurde von einem Arm in den anderen geschoben und abgeküßt. Endlich war auch das vorbei; Globonow atmete ein paarmal tief durch und stemmte die Hände in die Seiten.
»Wo ist das Messer, mit dem man Gyrewski getötet hat? Wem gehört es?«
»Mir, Herr Oberst«, sagte Miron dumpf. »Aber ich hatte es verloren …«
»Natürlich, verloren! Und wie kommst du Hund an ein Messer?«
»Ich bin ein freier Mensch, Herr Oberst, kein Leibeigener mehr und kein Verurteilter. Ich ziehe freiwillig nach Sibirien!« Miron holte die Urkunde des Grafen Koschkin aus dem Pelz, die bestätigte, daß er kein Leibeigener war, doch Globonow winkte ab.
»Der Fall ist noch lange nicht erledigt!« brüllte er. »Was für ein Mensch Gyrewski auch gewesen sein mag, er ist ermordet worden. An euren Fingern klebt Blut, ihr alle seid Mörder, denn ihr habt ihm den Tod gewünscht!«
»Von ganzem Herzen«, sagte Ninotschka laut. »Auch wenn es die verfluchteste Art ist, Probleme zu lösen.«
»Und wann schneidet man mir die Kehle durch?«
»Nie, Nikolai Borisowitsch, so lange Sie wie ein Vater zu uns sind.«
Globonow ließ den toten Gyrewski ausgraben und besichtigte ihn. Dann wurde er richtig beerdigt. Es war eine verdammt harte Arbeit, denn der metertief gefrorene Boden mußte stückweise aufgehackt werden.
Globonow bestimmte für diese Tätigkeit die vornehmsten seiner Sträflinge: Murawjeff, Wolkonsky, Trubetzkoi und Borja Tugai.
»Die Herren sind Mitwisser«,
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