Ninotschka, die Herrin der Taiga
Was aber die Gefangenen bekommen … wer weiß das!«
»Keine gespickte Rentierkeule!« rief die Gräfin Wolkonsky.
»Bestimmt nicht, Hochwohlgeboren …«
»Und warum erhalten wir etwas anderes als unsere Männer?« fragte Ninotschka. »Wir sind Deportierte wie sie. Wir haben keine anderen Vorrechte. Exzellenz, wir essen nur das, was jetzt unsere Männer essen.«
Abduschej sah Ninotschka lange und schweigend an. Diese Weiber! dachte er. Aber ich bin kein Petersburger Untertan, ich bin Semjon Iljajewitsch Abduschej, und jeder hier weiß, was dieser Name bedeutet.
»Das läßt sich machen«, erwiderte er dann. »Sokol, zehn Kuriere zur Kaserne. Sie sollen für die Damen die Gefangenenverpflegung herholen.«
Der Lakai starrte seinen Herrn entgeistert an, drehte sich dann um und rannte hinaus. Die anderen Diener mit den vollbeladenen silbernen Tabletts folgten.
Abduschej ergriff Ninotschkas Hand und küßte sie. »Meine Damen«, sagte er, »der Transport des Essens wird eine Weile dauern. Womit beschäftigen wir uns inzwischen?«
»Erzählen Sie uns aus Ihrem Leben, Exzellenz«, schlug die Trubetzkoi vor.
»Wirklich?« Semjon Iljajewitsch lehnte sich in seinen chinesischen Stuhl zurück. »Wie Sie wünschen. Fangen wir an mit meinem vierzehnten Lebensjahr. Damals ritt ich über die Steppe von Bedpak-Dala. Ich kam zurück von unseren Herden, die am Fluß Sary-Su weideten. Alles war dort in Ordnung, die Kühe waren fett und zufrieden. Aber als ich in das Tal kam, wo der Aul meiner Familie lag, sah ich nur Rauch und Flammen. Ein Trupp Kosaken hatte mein Dorf überfallen und alle getötet. Friedliche Menschen, die gar nicht gewußt hatten, daß dort oben in Petersburg ein Zar lebte, der sich auch als Herr über Karaganda ausgab.
Alle waren sie erschlagen worden, Vater, Mutter, meine Brüder und Schwestern – ich stand allein auf der Welt. Aber ich hatte mein Pferd und mein scharfes, gebogenes Messer. Damit ritt ich los. Ich folgte den Spuren der Kosaken, es waren vierundzwanzig Männer. Nach ein paar Wochen hatte ich einundzwanzig von ihnen getötet. Die anderen ließ ich leben, damit sie davon erzählen konnten. Aber vorher stach ich ihnen noch die Augen aus …«
»Eine köstliche Tischerzählung«, meinte die Trubetzkoi spöttisch. »Haben Sie noch mehr solcher Geschichten parat, Exzellenz?«
»Nur solche, Fürstin. Sibiriens Geschichte und Wachstum sind mit Blut geschrieben worden, und daran wird sich nichts ändern, auch wenn die Generationen wechseln. Dieses Land ist wie ein Moloch, der nur Leben kann durch Menschenopfer. Auch Sie werden in seinen Rachen geworfen, meine Damen. Ihre Reise bis Irkutsk war nur ein kleiner Vorgeschmack. Was jetzt kommt, wird die Hölle.«
»Wohin bringt man unsere Männer?« fragte Ninotschka.
»Nach Jenjuka, Gnädigste.«
»Mein, Gott, wo ist denn das?«
»Das ist bis jetzt noch eine kleine Faktorei am Fluß Olekma. Eine armselige Sammelstelle der Pelzjäger und Mineralsammler. Ein Treffpunkt aller Abenteurer und Gauner von Sibirien zwischen Lena und Amur. Aber man glaubt, daß Jenjuka einmal ein wichtiger Umschlagplatz werden kann, eine Drehscheibe zwischen Nord und Süd. Aus dem Norden die Pelze, aus dem Süden die Seide …
Man ist nicht dumm in Petersburg. Dazu braucht man aber Menschen. Menschen, die man zur Arbeit antreiben kann, die Straßen bauen, Sümpfe trocken legen, Urwälder roden …«
Abduschej unterbrach sich und blickte zur Tür. Der Leiblakai erschien mit tiefen Verbeugungen, das Essen aus der Kaserne war gebracht worden.
»Meine Damen!« Semjon Iljajewitsch rieb sich die Hände. »Das Menü der Deportierten, original serviert in Eisenkesseln. Darf ich auftragen lassen?«
»Bitte«, sagte die Trubetzkoi steif. Ihr Gesicht war wie aus Stein.
»Sokol, zuerst die Suppe!«
»Suppe?« fragte Ninotschka. »Sie meinen wohl, heißes Wasser?«
»Suppe, meine Beste!« Abduschej hielt seinen Teller als erster hin. »Was ist es denn? Ah, eine köstliche Suppe aus sibirischen Nachtigallen.«
»Exzellenz«, stammelte die Trubetzkoi, »Ihr Spott geht zu weit.«
»Und was gibt es als Hauptgang, Sokol?« fragte der Gouverneur.
»Rentierkeule gespickt, Exzellenz.«
Abduschej lehnte sich zurück und lachte. »Und dann Piroggen mit zartem Kalbfleisch, kandierte Früchte und einen mit Honig gesüßten Tee. Warum sitzen sie herum wie Statuen, meine Damen? Das ist das Essen meiner Gefangenen. Ich betone ›meiner‹! Ich bin nicht der Zar. Ich habe Hochachtung vor
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