Ninotschka, die Herrin der Taiga
sagte er ruhig. »Es muß Ihnen doch jetzt eine Freude sein, Ihr Opfer nun auch unter die Erde zu bringen.«
Den Täter aber fand auch Globonow nicht. Und das Messer war verschwunden – bis Miron es eines Tages in seinem Schlitten entdeckte. Der Kutscher steckte es still ein und schwieg. Wer das Messer dorthin gelegt hatte, war sowieso nicht festzustellen bei dem Durcheinander, das durch den Aufbruch zur Weiterfahrt verursacht wurde.
An diesem Tag sah Ninotschka auch Borja wieder. Er stand in der langen Reihe der Verurteilten, die sich Tee holten, hielt seine Blechtasse hin und begann zu zittern, als er Ninotschka erkannte. Sie war eine der Frauen, die die Brotportionen ausgab.
»Wie geht es dir, Borjuschka?« fragte Ninotschka leise, als sie ihrem Mann den Kanten Brot in die Hand drückte. Für zwei Sekunden berührten sich ihre Finger, und es war, als ginge eine Sonne zwischen ihnen auf.
»Ich habe Sehnsucht nach dir, Ninotschka …«
»Wir werden eine Gelegenheit finden, wieder zusammenzukommen.«
»Ich liebe dich …«
»Irgendwann werden wir zusammen wohnen. Globonow sagt, daß es in Sibirien Kolonien gibt, wo die Verbannten mit ihren Frauen leben dürfen. Ganze Dörfer entstehen so … Vielleicht ist Jenjuka auch so ein Dorf.«
»Weitergehen!« schrie der Kosak, der die Schlange der Wartenden abschritt. »Weitergehen! Keine Gespräche!«
Borja drückte das Brot an seine Brust. Gewaltsam riß er sich von Ninotschkas Anblick los und rannte davon.
Bevor sie Tschita erreichten, brach der Frühling herein.
Er kam ganz plötzlich. Von China her wehte ein warmer Wind, die Bäume schüttelten den Schnee ab wie Hunde ihre Wassertropfen. Es klang wie krachende Kanonenschüsse, wenn das Eis auf den Flüssen barst, sich in dicken Schollen übereinanderschob und gegen die Ufer stieß.
Die Straße wurde zu einem morastigen Sumpf, in dem die Schlitten steckenblieben. Jede zurückgelegte Werst war ein Kampf. Vorn zogen keuchend die Pferde, hinten drückten die Menschen die Schlitten weiter, und trotzdem kam man nur schrittweise vorwärts.
Globonow schickte Reiter voraus, um leichte Kaleschen zu besorgen. Er ließ den Kommandanten von Tschita – das noch vier Tagereisen entfernt lag – verständigen, daß die Dekabristenkolonne vor den Toren stehe, und Kutschen, frische Pferde und Sommerausrüstung brauche. Außerdem ließ er bestellen, daß man im Hospital vier Zimmer benötige. Vier der mitziehenden Frauen seien schwanger geworden und sähen ihrer Niederkunft entgegen. Man würde in Tschita einen Monat bleiben und dann nach Norden weiterziehen, nach Jenjuka …
Die plötzlich einbrechende Hitze wurde unerträglich. Die Männer stampften mit offenen Hemden hinter den Schlitten her, und auch die Frauen hatten ihre Kleider aufgeknöpft und kümmerten sich wenig darum, daß man ihre Leibchen mit den Spitzenrändern sah. Aus den Sümpfen schwirrten Millionen von Mücken aus, überfielen die Kolonne in dichten, surrenden Wolken und waren blutgieriger als ein Rudel Wölfe. Gegen die Kälte hatte man Pelze, gegen die Wölfe Gewehre – nur gegen die Mücken war man machtlos.
Globonow war als einziger nicht zerstochen. »So ein Holzbein ist ein Geschenk«, sagte er fröhlich, als er eines Abends ins Frauenlager kam. »Es merkt keinen Stich. Und ich kann die kleinen Bestien überlisten. Ganz einfach ist das: Ich schmiere das Bein mit Honig ein, die Mücken setzen sich darauf, und ich – nicht faul – kann sie armeenweise totschlagen.« Er setzte sich in den Kreis der Frauen, rauchte seine Pfeife und starrte in das prasselnde Lagerfeuer. »In Tschita verlasse ich Sie wieder, meine Damen …«
»Das dürfen Sie nicht, Nikolai Borisowitsch!« rief Ninotschka.
»Ich habe nur den Auftrag, Sie in Tschita abzuliefern.«
»Dann holen Sie sich eine neue Order, uns bis Jenjuka zu begleiten!«
»Das wird nicht möglich sein. Ich habe in Irkutsk die Nachricht von meiner Pensionierung erhalten, einen Tag vor Ihrem verdammten Mord an Gyrewski!«
»Wollen Sie, daß wir einen zweiten begehen?« fragte die Trubetzkoi ruhig.
Globonow seufzte. »Das habe ich erwartet. Meine Damen, ich bin ein alter Krüppel. Einmal werde ich umfallen und meinen armseligen Geist aufgeben. Dann sind Sie auch allein.«
»Aber wir haben bis dahin Jenjuka erreicht. Darauf kommt es an, Nikolai Borisowitsch. Wir bauen uns in Jenjuka unsere eigene kleine Welt, in der wir bis zum Ende leben werden. Und Sie werden unser Ehrenbürger sein,
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