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Ninotschka, die Herrin der Taiga

Ninotschka, die Herrin der Taiga

Titel: Ninotschka, die Herrin der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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strafend an.
    »Lassen Sie das!« sagte er scharf. »Ich habe diesen Ukas nicht aufgesetzt.«
    »Aber Sie lesen ihn in strammer Haltung vor, General. Sie sollten auf jedes Wort spucken!«
    »Weiter!« Schejin hustete noch ein paarmal und hob das Pergament näher an seine Augen.
    »Der Zar befiehlt: Die Frauen sind schutzlos gegen alles, was ihnen in Sibirien widerfährt. Keine Behörde wird ihnen Beistand gewähren. Sollten sie überfallen werden, haben sie sich selbst zu verteidigen. Sie müssen wissen, daß sie durch ihren Willen, bei verurteilten Staatsverbrechern zu bleiben, ab sofort selbst zur niedrigsten Klasse aller Russen gehören, daß sie als Frauen dieser Verbrecher den Verbrechern gleichgestellt sind und alle Demütigungen zu ertragen haben. Diese Frauen dürfen die ihnen vom Gouverneur zugewiesenen Wohnsitze nie mehr in ihrem Leben verlassen. Alle Briefe, die sie schreiben, haben sie unverschlossen dem Kommandanten des Straflagers zu übergeben. Der Gouverneur entscheidet, ob diese Briefe weiterbefördert werden.
    Gegeben in St. Petersburg, im Mai 1827. Seine heilige Majestät der Zar …«
    »Heilige Majestät?« sagte Globonow laut. »Dieses Wort ist eine Beleidigung Gottes!«
    »Ihre Meinung, Nikolai Borisowitsch, interessiert hier nicht!« rief Schejin. »Es geht um die Damen.« Er überblickte den langen Tisch mit den festlich gekleideten Frauen. Er starrte in bleiche, aber entschlossene, hartgewordene Gesichter. Eigentlich brauchte man sie gar nicht mehr um ihre Meinung zu fragen, aber laut Befehl mußte Schejin das tun.
    »Ich frage Sie nun«, sagte der General heiser, »wollen Sie dieses Gesetz auf sich nehmen? Wer sich ihm unterwirft, bitte ich, sich zu erheben.«
    Die Frauen schwiegen. Aber plötzlich wurden die Stühle zurückgeschoben. Wie auf ein unhörbares Kommando standen die Frauen auf, kerzengerade, stolz, hocherhobenen Hauptes – alle, ohne Ausnahme. Sie brauchten keine Minute Bedenkzeit.
    »Bravo!« rief Globonow. »Bravo. Wirkliche Liebe besiegt auch Sibirien. Schejin, zerreißen Sie den Wisch aus Petersburg. Diese Frauen hier machen Geschichte, nicht der Zar!«
    Schejin faltete das Pergament bedächtig zusammen. Die anderen Offiziere in seiner Begleitung blickten die Frauen an und kämpften sichtbar mit den Tränen.
    Leibeigene der Krone – eine Trubetzkoi, eine Koschkina, eine Wolkonsky, eine Murawjeff … Namen, mit denen die Erinnerung an Paläste und unermeßlichen Reichtum verbunden waren.
    »Meine Damen«, sagte Schejin, krampfhaft um Haltung bemüht. »Gehen Sie jetzt zurück in Ihre Quartiere. Sie werden eine offizielle Verzichtserklärung noch unterschreiben müssen.«
    »Und wann dürfen wir unsere Männer sprechen?« unterbrach ihn Ninotschkas helle Stimme.
    »Morgen früh, Madame.«
    »Wie lange?«
    »Einen ganzen Tag lang. Wenn Sie unterschrieben haben, sind Sie nicht mehr als Ihre Männer.«
    »Wir sind stolz darauf«, sagte die Trubetzkoi. General Schejin wollte noch etwas erwidern, hob dann aber nur resigniert die Hände und ging hinaus. Seine Offiziere folgten ihm. Nur Globonow blieb im Saal bei den Frauen.
    »Was nun?« fragte die Wolkonsky. Die Frauen umringen Globonow, der seine ausgerauchte Pfeife an seinem Holzbein ausklopfte. »Was sollen wir tun?«
    »Wir werden nach Jenjuka ziehen und dort ein neues Dorf bauen«, sagte Globonow. »Ein Dorf der Frauen. Wenn Sie mich als einzigen Mann darin dulden wollen, meine Damen …«
    »Lassen Sie sich küssen, Nikolai Borisowitsch!« Die Trubetzkoi umarmte den alten Oberst und drückte ihn an sich. »Auch der einsamste Teil der Welt ist nicht einsam, wenn es Menschen wie Sie gibt!«

XI
    Der nächste Tag war ein Tag des Glücks. Von neun Uhr früh bis acht Uhr abends waren die Frauen mit ihren Männern zusammen. Zum erstenmal seit anderthalb Jahren gingen keine Wachen zwischen ihnen auf und ab, trieb man sie nicht auseinander wie zwei fremde Herden, die sich nicht vermischen sollten. Zum erstenmal nach achtzehn Monaten lag man zusammen in der heißen sibirischen Sommersonne, konnte sich streicheln, sich küssen und alles das sagen, was sich im Herzen angesammelt hatte.
    Schejin und Globonow, die gegen Mittag einen Ausritt unternahmen, sahen die Paare im Wald unter den schattenspendenden Bäumen liegen. Es war wie ein Rausch über sie alle gekommen, trotz des körperlichen Verfalls, der schrecklichen Wunden, die die Ketten gescheuert hatten und der Verzweiflung, die immer noch an ihnen fraß um die verlorengegangene

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