Ninotschka, die Herrin der Taiga
Kraft geben.«
»Wissen Sie, daß in Jenjuka noch kein Arzt ist? Vielleicht kommt auch nie einer hin.«
»Was soll's, Nikolai Borisowitsch! Wenn die Burjätenfrauen ihre Kinder ohne Arzt bekommen, warum nicht auch ich?«
Sie zogen neunzig Tage nach Norden. Neunzig Tage Kampf gegen den Wald, die Hitze und in den letzten zwei Wochen gegen den unaufhörlichen Regen, der den Boden zu einem Sumpf machte.
Neunmal mußten sie anhalten und ein Grab schaufeln, für ein paar ältere Männer und zwei Frauen. Die Frauen waren nicht krank gewesen, aber als ihre Männer tot zusammenbrachen, gingen sie in den Wald und hängten sich auf. Ihr Leben waren ihre Männer gewesen, nun waren sie tot, was sollten sie, die Frauen, da noch in Sibirien?
So begrub man sie zusammen in Doppelgräbern, betete, der mitreisende Pope, Vater Eustach, hielt eine Totenmesse, dann ging es weiter. Jeder Aufenthalt verschlechterte nur die Lage, machte müde, brachte den Winter näher. Bei Einbruch der Kälte aber wollte man in Jenjuka sein.
»Weiter!« schrie Globonow, der jetzt offen das Kommando übernommen hatte. »Weiter! Es sind nur noch zweihundert Werst bis Jenjuka!«
Zweihundert Werst … Und es regnete, regnete, regnete. Die Taiga ertrank.
Längst marschierten die Frauen zusammen mit den Männern, drückten mit die Wagen vorwärts, kochten, verbanden die Wunden und waren für die Verbannten wie die Engel, deren bloßer Anblick neue Kraft verlieh.
Noch hundert Werst! Der Wind wurde kälter, er pfiff um die Bäume. Der Winter kommt! Schneller, schneller!
Am 4. November 1827 erreichten sie die Faktorei Jenjuka. Und an diesem Abend schneite es zum erstenmal. Sie hatten den Wettlauf gegen den Winter gewonnen.
Jenjuka erwies sich auf den ersten Blick als ein trostloser Fleck Erde, ein Stück, das Gott bei der Schöpfung übersehen hatte. Aber bei genauerem Hinsehen erkannte man, daß aus diesem Stück etwas zu machen war. Da floß träge und breit die Olekma, ein Fluß, der von Fischen fast überquoll, mit einem reinen, glasklaren Wasser, das man trinken konnte, ohne das gefürchtete Fieber zu bekommen. Und Wälder waren da, voll von Tieren, Biber gab es am Wasser, Rentierherden zogen durch die grüne Weite, Füchse, Marder, Hermeline und Nerze bevölkerten den Wald, und wenn man an den Stromschnellen stand, konnte man die Lachse springen sehen, lang und dick, die einem wie im Schlaraffenland fast in den Mund hüpften.
»Welch ein Land!« sagte Globonow überwältigt. »Und vor so etwas hat man in Europa Angst!« Er sah Ninotschka und die anderen Frauen an, die mit ihm am Ufer der Olekma den springenden Lachsen zuschauten. »Wer hat noch Sehnsucht nach dem Steinhaufen Petersburg? Wer trauert um seine seidenen Gewänder? Wer weint den Gobelinsesseln nach? Ich nicht!«
Die Fürstin Trubetzkoi lächelte. »Ich habe in Irkutsk zwei Gobelinsessel bestellt. Sie sind auf dem Weg nach Tschita. Dort lasse ich sie abholen. Einen bekommt mein Mann, den anderen Sie, Nikolai Borisowitsch.«
Die ersten Wochen waren ausgefüllt mit Vorbereitungen. Die Männer – zusammengefaßt in einem Lager aus sieben Hütten, um die man einen hohen Holzzaun gezogen hatte – begannen, Bäume zu fällen. Noch war der Schnee weich, der Wind zwar kalt, aber nicht eisig. Es fror noch nicht. Aber wenn erst die richtige Kälte aus dem Norden hereinbrach, würde das Fällen Schwerstarbeit werden.
Wer sonst in Jenjuka wohnte, verhielt sich zunächst abwartend: Ein Burjätenstamm in seinen winterfesten Auls, zweiunddreißig begnadigte, aber in Sibirien angesiedelte Sträflinge, und einige Jäger, die ihre Beute in der staatlichen Faktorei ablieferten, wo ein dicker Mann herrschte, der Aufkäufer Porfiri Jewdokimowitsch Birjukow. Er war der eigentliche Herr von Jenjuka. Er bestimmte die Preise, er vertrat den Zaren und verteilte den Schnaps. Allein das machte ihn zum unumschränkten Herrscher.
Globonow stattete ihm sofort einen Besuch ab, betrachtete ihn mit schräggeneigtem Kopf und sagte ruhig: »Hör zu, du Halunke! Es gibt zwei Möglichkeiten … entweder du tust, was ich sage, oder ich tue, was ich will. Wofür entscheidest du dich?«
Porfiri Jewdokimowitsch überlegte kurz, betrachtete das geschnitzte Holzbein und antwortete: »Ist das nicht dasselbe, Väterchen?«
»Durchaus nicht. Tust du, was ich will, hast du Ruhe. Tue ich, was ich will, wirst du um jede ruhige Minute beten müssen.«
»Es ist besser, sich zu vertragen«, meinte Birjukow.
Sie tranken vier
Weitere Kostenlose Bücher