Ninragon – Band 1: Die standhafte Feste (German Edition)
blickte aufs Meer und las in einem Buch, das er sich mitgebracht hatte, doch oft genügte ihm einfach nur das Spiel der Wellen und der Farben zwischen Himmel und Meer.
Jeden Morgen, wenn die Unruhe und die Träume ihn schließlich von seinem Lager hochgetrieben hatten, schlich er wie ein von der Nacht übrig gebliebenes Gespenst durch das Kasernentor und folgte engen, noch trüb grauen Gässchen, nahm seinen Weg durch die höhlenartige Stille des Fischmarkts mit seinen klammen, unauslöschbaren Gerüchen aller bisher dahingegangenen Vortage, bis er, gleich hinter der ins Meer ragenden Wehrmauer des Hafens, an einer Stelle zum Ufer kam, wo in einer weiten, runden Pfanne von Sand, die See schon eifrig dabei war, die Spuren der über Nacht auf den Strand gezogenen kleineren Fischerboote auszulöschen. Er ging dann, mit dem Schatten der schroff aus dem Meer ansteigenden Felsenschulter, auf der sich das Kastell erhob, und der inneren Stadt in seinem Rücken, immer an der Linie des festgebackenen feuchten Sandes entlang, betrachtete den Saum des Strandguts – Muscheln, Schneckenhäuser, Algen und anderes tote und versteinerte Meeresgetier –, ließ abwechselnd den Blick über das Meer gleiten, das sich ihm jeden Morgen in anderen Farbschattierungen, unter einem anderen Himmel darbot, und konnte nicht aufhören zu staunen, angesichts der Mannigfaltigkeit der Stimmungen, der Farbharmonien, der Klarheit des Wassers und der Tiefe der Weite, die sich zwischen Wasserfläche und Himmel aufspannte.
Er war an der Bleichen Küste an einem von Herbststürmen zerwühlten Nordmeer entlang gewandert; es war ein Meer, an dem man entlang reist um zu einem Ziel zu gelangen, ansonsten blieb es ihm nichts als ein raues, abweisendes Element. Doch dies hier war eine weite klare Fläche von Blau zu Türkis, und indem er sie bewusst mit allen Sinnen wahrnahm, musste er sich eingestehen: Er hatte noch nie das Meer gesehen.
Er wusste seinen Rückweg so abzustimmen, dass er die flache Einbuchtung der Sandpfanne gerade dann wieder erreichte, wenn die von ihrem Fang zurückgekehrten Fischer mit der Arbeit des Entladens beschäftigt waren. In den ersten Tagen schaute er ihnen auf einem Felsblock sitzend dabei zu, aber nachdem er sich so weit genesen fühlte, dass sein Körper von der Arbeit nicht mehr so sehr schmerzte, half er ihnen mit den Netzen, Kisten und Fässern. Er plauderte mit ihnen in einer Mischung von Idirisch und den Brocken Ilvenisch, die er bisher aufgeschnappt hatte, wenn sie, bevor sie die Ware zum Markt karrten, noch eine letzte Verschnaufpause einlegten und ihre seltsamen südlichen Krautstangen rauchten. Dann nahm er den Fang in Augenschein und kaufte ihnen für kleines Geld ein Stück dessen ab, was das Meer an diesem Morgen preisgegeben hatte – mit etwas Glück eine blausilbern glitzernde Goldbrasse.
Zwischen den Felsen machte er sich ein Feuer, stellte seine mitgebrachte zerbeulte Pfanne darauf und briet sich die Brasse mit dem Blick aufs Meer, aß den Fisch mit großem Genuss, Tag für Tag, indem er nur eine Prise Steinsalz darüber streute. Frischer Fisch war ebenfalls etwas Neues für ihn.
Nachdem er in dem Lazarett in Kvay-Nan wach geworden war und zu seinem großen Erstaunen festgestellt hatte, dass er nicht tot war, hatte er zunächst dick gepolsterte Wundauflagen am Hals und einen Kreuzverband um die Schultern tragen müssen. Ihn zu fixieren war unnötig gewesen; in seinem eigenen Interesse ersparte er sich bestimmte Arm- und Schulterbewegungen, die wegen den verletzten, durchtrennten Halsmuskeln übel schmerzten.
„Du hast dich weniger angestellt, als du noch mit einem Bolzen im Hals gegen Horden von Spitzohren gekämpft hast, als hier im weichen Lazarettbett“, hatte Jagnar gespöttelt. „Wahrscheinlich geht die Therapie der Kurpfuscher hier genau in die falsche Richtung. Vielleicht kann ich sie überreden, den Bolzen wieder in den Hals zu bohren und ich könnte auch mit etwas Mühe schon irgendwie einen Aufstand organisieren, so dass die hier ansässigen Krawallmacher mit Dolchen zwischen den Zähnen dieses Lager stürmen. Du weißt ja, im Randale machen bin ich gut.“
Die Ärzte stellten fest, dass bei vielen der überlebenden Soldaten des Kvay-Nan-Feldzuges die äußeren Verletzungen nicht das größte Problem darstellten. Viele waren traumatisiert von dem, was sie gesehen und erlebt hatten. Sie kamen einfach nicht mehr mit ihrem alltäglichen Leben klar, entwickelten Zwangsvorstellungen,
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