Nixenblut
eine starke Strömung suchen«, schlägt Faro vor.
Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, Strömungen zu meiden. Ich weiß zum Beispiel, dass sich jenseits der Landzunge eine befindet. Deshalb schwimmen wir auch nie dorthin – weil es gefährlich ist. Wen die Strömung erfasst, der wird weit hinausgetragen, und selbst gute Schwimmer haben keine Chance, gegen sie anzukämpfen. Man wird aufs offene Meer hinausgezogen und ertrinkt beim Versuch, sich zu wehren.
»Dort drüben ist eine gute«, sagt Faro. »Komm mit.«
»Aber …«
»Hier geht’s lang, Sapphire.«
Ich sehe die Strömung, bevor ich sie spüre. Vor uns ist das Wasser in Bewegung. Es sieht aus wie ein gewundenes, glattes Seil oder wie eine mächtige, sich ringelnde Seeschlange. Dort wirkt das Wasser dichter und bewegter als an anderen Stellen. Hat sie mich erst mal in ihrer Gewalt, gibt es kein Entkommen mehr. Dann wird sie sich um mich schließen und mich nicht wieder freigeben.
»Schwimm niemals über diese Felsen hinaus, Sapphire. Dahinter ist eine starke Strömung. «
»Aber ich kann nichts sehen, Dad. «
»Dort ist die Strömung, glaub mir. Und jetzt versprich mir, dass du nie dorthin schwimmen wirst. «
»Okay, Dad. Ich verspreche es. «
»Los geht’s!«, ruft Faro und drängt unruhig nach vorne, wie ein Surfer auf der Suche nach der perfekten Welle. Sein Körper dreht sich und verschwindet in der schlangenförmigen Strömung. Doch ich darf ihm nicht folgen. Ich habe es Dad versprochen. Ich kann nicht …
Doch länger an Ort und Stelle bleiben sollte ich auch nicht. Was hat Faro gesagt? Solange ich bei dir bin, kann dir nichts passieren.
Ich tauche hinein und lasse mich von der Strömung verschlucken. Nur für einen kurzen Moment habe ich Angst, erstickt zu werden, so wie mich eine Pythonschlange umschlingen und ersticken könnte. Doch plötzlich bin ich ein Teil von ihr. Sobald man sich innerhalb der Strömung befindet, hat sie nichts mehr von einer Schlange an sich. Es kommt mir so vor, als säße ich in einem Flugzeug, das mit
höchster Geschwindigkeit die Startbahn hinunterrast. Mir bleibt keine Wahl. Das Flugzeug hat abgehoben und ich muss mitfliegen.
Dann erblicke ich Faro, genau in der Mitte der Strömung.
»Komm weiter hinein!«, ruft er mir zu.
Jetzt weiß ich, was zu tun ist. Man muss dorthin schwimmen, wo die Geschwindigkeit am höchsten und die Macht der Strömung am stärksten zu spüren ist. Man muss sich hineinlegen wie ein Pfeil, so wie Faro das tut. Der Sog ist so stark, dass man ihn kaum als Sog wahrnimmt. Nur wenn ich sehe, wie der geriffelte Meeresgrund unter mir hinwegjagt, weiß ich, wie schnell ich bin.
»Jippie!«, ruft Faro, und ich stimme mit ein, als ich auf dem Rücken der Strömung reite wie auf einem wilden Pferd und mich willig herumschleudern lasse, bis ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Aber was spielt das jetzt für eine Rolle? Alles, was zählt, ist mein wilder Ritt. Faro balanciert aufrecht auf seinem Unterleib. Ich versuche, es ihm nachzumachen, aber meine Beine sind dazu nicht in der Lage. Ich versuche es noch einmal …
»Pass auf! Felsen!«, schreit Faro und katapultiert uns mit einem Schlag seines Unterleibs aus der Strömung heraus, ehe sich diese an den Unterwasserfelsen bricht und zu Millionen weißer Wirbel explodiert.
»Du hast nicht nach vorne geschaut«, bemerkt er, als wir keuchend im ruhigen Wasser treiben.
»Kann ich nicht… bei dem Tempo!«
»Hm, langsame menschliche Reaktionen. Halte dich lieber fürs Erste von den Strömungen fern, wenn ich nicht dabei bin. Das ist kein Kinderspiel.«
»Ich glaube, ich lass das überhaupt bleiben.«
»Sei nicht dumm, Sapphire. Wie willst du denn große Entfernungen überwinden, wenn du nicht die Strömungen nutzt? Du musst nur wissen, wie du mit ihnen umgehen musst, das ist alles. Sie haben ihre eigenen Gesetze, aber die kann man lernen. Jede Strömung hat einen festen Verlauf, doch sie können einander auch so nahe kommen, dass man von einer zur anderen springen kann. So kannst du riesige Entfernungen zurücklegen. Wenn du das Strömungs-Springen gelernt hast, dann können wir richtig reisen. Elvira will mit Conor bald zu den Verlorenen Inseln …«
Er bricht ab, als hätte er sich verplappert.
»Wer ist Elvira?«
»Das habe ich doch erzählt, meine Schwester. Sie ist irgendwo hier in der Nähe.«
»Kann ich sie sehen?«
»Vielleicht. Sie und Conor reden mit den Sonnenfischen. Wir sagen ihnen, dass sie jetzt ruhig
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