Nixenblut
kommt immer so schnell.«
»Aber vor ein paar Minuten war doch noch Ebbe.«
»Wirklich?«
»Ich muss sofort zu den Steinen zurückschwimmen, ehe das Wasser zu tief ist.«
Ich muss vorsichtig sein, damit mich die Flut nicht gegen die Steine drückt und ich mir blaue Flecken oder Schlimmeres zuziehe.
»Wo willst du hin?«, fragt Faro, während ich von der Kante des Felsens ins Wasser blicke, um zu prüfen, ob ich gefahrlos hineinspringen kann. Springen geht schließlich am schnellsten und das Wasser steigt mit großer Geschwindigkeit.
»Ich muss zurück, sonst schaffe ich es nicht mehr.«
»Aber dein Bruder ist immer noch hier«, sagt Faro beiläufig.
Ich zucke zusammen und drehe mich langsam zu ihm um. Wie habe ich Conor nur erneut vergessen können? Wie konnte ich nur daran denken, mich selbst in Sicherheit zu bringen, ohne auch an ihn zu denken?
»Wo ist er?«
»Ich bringe dich zu ihm«, sagt Faro. »Nimm meine Hand, Sapphire, dann bringe ich dich zu ihm.«
Faro balanciert jetzt auf der äußersten Kante des Felsens.
Sein kräftiger Robbenunterleib hängt über dem Wasser, während er sich mit den Armen abstützt, als wolle er sich im nächsten Moment abstoßen und ins Wasser springen. Er schaut zur Mündung der Bucht hinüber, wo das frische Wasser der Flut einströmt. Ich spüre mit jeder Faser meines Körpers, dass mich Faro nicht mit an den Strand nehmen will, wo sich der feste Sand befindet und ich den Weg nach Hause finde. Er will mich ins tiefe Wasser mitnehmen, das sich jenseits der Mündung befindet. Aber dort darf ich nicht hin – es ist zu gefährlich.
»Das geht nicht«, sage ich. »Ich muss zurück.«
»Ohne Conor?«, fragt Faro spitz. »Wenn ich wüsste, dass meine Schwester an Land ist, dann würde ich sie niemals zurücklassen. Ich würde nie ohne sie nach Hause gehen.«
»Meinst du, dass Conor in Gefahr ist?«
Faro sieht mich schweigend an. Er testet mich, ich weiß es genau. Wäre Conor tatsächlich in Gefahr, wie könnte er dann in aller Ruhe auf diesem Felsen sitzen und mit mir reden, ohne etwas zu unternehmen? So was tut doch kein Mensch.
Menschen tun so etwas nicht. Ich schaue auf Faros geschwungenen, kraftvollen Robbenschwanz. Die Stelle, wo der menschliche Leib endet und der Merleib anfängt, ist kaum auszumachen. Die Teile scheinen ineinander zu fließen. Faro bemerkt meinen Blick.
»Ist sicher ein komisches Gefühl, so geteilt zu sein wie du«, sagt er mit einem Anflug von Mitleid in seiner Stimme.
»Geteilt?«
»Das weißt du doch«, sagt Faro beharrlich und sieht dabei so verlegen aus wie jemand, der gerade entdeckt, dass sein Gegenüber einen Ketschupklecks am Kinn hat. »Ich
meine, so, wie ihr nun mal seid – gespalten .« Er zeigt auf meine Beine. »Ist das nicht ein merkwürdiges Gefühl, solche Dinger zu haben?«
»Aber du bist doch geteilt, nicht ich! Du bist halb Mensch, halb …«
»Halb was?«, fragt Faro gereizt. »Da ist es schon wieder, dein Luftdenken. Ich bin überhaupt nicht halb. Ich bin ein vollständiger Mer.« Er sagt dies mit Stolz, als wäre er adeliger Abstammung, und wirft einen zufriedenen Blick auf seinen Unterleib.
»Conor ist mit meiner Schwester unterwegs«, fügt Faro hinzu. »Kommst du jetzt oder nicht?«
Ich habe keine Wahl. Wie tief der Abgrund auch sein mag, der an der Mündung in die Tiefe führt; gleichgültig wie schnell die Flut in die Bucht strömt – Faro ist der Einzige, der mich zu Conor bringen kann. Und ohne Conor kann ich doch nicht nach Hause zurückkehren.
»Ich komme mit«, sage ich.
»Gut«, sagt Faro. »Aber du musst dein Luftdenken hier auf diesem Felsen zurücklassen. Wir schwimmen nicht so wie ihr, halb an der Luft.« Er imitiert eine Art Hundepaddeln, bei dem das Gesicht aus dem Wasser schaut.
»Unter Wasser kann ich nicht atmen.«
»Ans Atmen brauchst du gar nicht zu denken. Atmen tust du an Land. Wir Mer machen das anders. Halte dich an meinem Handgelenk fest, genau hier. Schließ deine Finger ganz fest zusammen. Noch fester! Wenn ich tauche, dann tauchst du auch. Versuch nicht, die Luft anzuhalten. Verschwende keinen Gedanken ans Atmen. Lass sämtlichen Atem entweichen. Solange du bei mir bist, wirst du nicht ertrinken. «
Faros Handgelenk fühlt sich warm und stark an. Ich betrachte seinen kraftvollen, geschmeidigen Unterleib. Er zuckt, als könne er es nicht erwarten, ins Wasser zu kommen.
»Wenn ich tauche«, sagt Faro erneut, »dann tauchst du auch.«
Ich packe sein Handgelenk und schaue hinunter
Weitere Kostenlose Bücher