Nixenblut
weiter gen Norden ziehen können, weil das Wasser wärmer geworden ist, aber sie wollen uns nicht glauben. Sonnenfische sind sehr starrköpfig, haben jedoch ein gutes Gedächtnis. Sie erinnern sich sogar noch an die Eiszeit in dieser Gegend.«
»Die Eiszeit? Das ist doch völlig unmöglich, Faro! Die Eiszeit ist schon tausende und abertausende von Jahren her«, entgegne ich selbstsicher. Es ist ein gutes Gefühl, endlich einmal mehr zu wissen als Faro.
»Fische speichern ihre Erinnerung nicht allein in ihrem Kopf, so wie du.«
»Wo speichern sie sie dann?«
»Sie bewahren sie in den Schwärmen. Die Schwärme verändern sich zwar, wenn einzelne Fische zur Welt kommen
oder sterben, doch die Erinnerung bleibt dem Schwarm erhalten. Jeder kann an ihr teilhaben.«
Dann nehme ich etwas auf, das Faro vorhin erwähnt hat.
»Sagtest du, dass auch Conor mit den Sonnenfischen redet ? Nicht nur Elvira? Hat Conor denn eure Sprache gelernt ?«
»Ich würde nicht sagen, dass er sie heute schon beherrscht. Elvira versucht, sie ihm beizubringen.«
»Wie oft ist mein Bruder schon hier gewesen … mit Elvira ?«
»Ach, ich weiß nicht genau«, antwortet Faro. »Ein paarmal. Du stellst ganz schön viele Fragen, Sapphire. Genau wie Conor. Muss eine menschliche Eigenschaft sein. Komm, lass uns eine neue Strömung suchen.«
Gesagt, getan. Strömung folgt auf Strömung. Wir surfen, gleiten und wirbeln herum, steigen und fallen, bis alles wieder von vorne beginnt. Kleine, verspielte Strömungen drehen uns im Kreis. Größere und stärkere tragen uns meilenweit fort. Und weit von uns entfernt, jenseits dieses Gebiets, befinden sich die Riesenströmungen. Faro sagt, dass er sie mir eines Tages zeigen wird. Aber nicht jetzt. Ich brauche noch sehr viel Praxis, um mit den Riesenströmungen zu surfen. Noch sind sie viel zu wild für mich.
»Ist Conor schon mit einer Riesenströmung gesurft?«
»Nein.«
Seltsamerweise mache ich mir keine Sorgen mehr um Conor. Ich habe fast vergessen, dass ich eigentlich hierher gekommen war, um ihn zu finden und nach Hause zu bringen. Natürlich habe ich es nicht völlig vergessen; die Erinnerung befindet sich irgendwo in meinem Hinterkopf, so wie die reale Welt, wenn man inmitten eines Traumes ist.
Aber das scheint nicht so wichtig zu sein. Conor geht es gut. Er ist bei Elvira und spricht mit den Sonnenfischen. Alles, was zählt, ist der Sog der Strömungen und das Prickeln des wirbelnden Wassers. Ich will, dass es nie wieder aufhört.
Doch als wir uns gerade sicherheitshalber von einem kniffligen, kleinen Wasserwirbel abwenden, der Faro zufolge zu nahe an einer Riesenströmung vorbeiführt, blicke ich nach oben. Zwischen mich und die Wasseroberfläche hat sich eine mächtige Gestalt geschoben. Eine Gestalt, die mir schon mein ganzes Leben lang vertraut ist, wenn ich sie auch noch nie direkt vor mir gesehen habe.
Ich erblicke ein klaffendes Maul und einen Körper, so groß wie ein Hubschrauber. Flossen, ein Schwanz … »Faro!«, flüstere ich, weil ich Angst habe, das Tier könnte die Vibration meiner Stimme im Wasser wahrnehmen. »Faro, da ist ein Hai!«
Faro dreht sich zur Seite und schaut nach oben. Der Hai schwimmt direkt über uns. Seine Kiefer sind weit geöffnet, als warteten sie auf etwas. Oder auf jemand.
Achtes Kapitel
I ch weiß«, sagt Faro. Er liegt auf dem Rücken, rudert mit den Händen und betrachtet den Hai in aller Ruhe. »Der ist zu dieser Jahreszeit schon oft hier gewesen, wegen der Futtergründe. «
Mir fährt der Schreck in die Glieder. Wie kann er nur so ruhig sein? »Aber Faro, das ist ein Hai !«
»Vor dem brauchst du keine Angst zu haben. Der frisst nur kleine Lebewesen.«
Als hätte der Hai ihn gehört, wendet er uns langsam seinen großen Kopf zu. Er hat uns gesehen.
»Er riecht uns«, sagt Faro. Er betrachtet den Hai aufmerksam, scheint aber nach wie vor unbesorgt zu sein.
»Was soll das heißen, Faro, nur kleine Lebewesen?«
»Schau hin.«
Ich beobachte, wie der Hai seinen Kopf wieder nach vorne dreht, mit weit geöffneten Kiefern vorangleitet und dabei seinen Körper von einer Seite auf die andere schwingen lässt, so wie ein Elefant seinen Rüssel schwingt. Mit seinem aufgerissenen Maul sieht es so aus, als würde er das Meer absaugen.
»Er frisst«, sagt Faro. »Alles landet in seinem Maul. Sein Rachen ist wie ein Sieb. Das meiste, was er frisst, ist so klein, dass du es nicht erkennen kannst.«
»So wie Plankton?«
»Plankton? Meinetwegen. Ihr
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