Nixenblut
menschliches Gesicht.
»Denke wie wir. Schau dir die Robben an.«
Die Robben schwimmen auf mich zu und berühren mich mit ihren geschmeidigen Leibern. Ihre großen Augen scheinen mir etwas sagen zu wollen. Die Robbensprache fließt mir entgegen. Sie besteht nicht aus Wörtern, sondern aus etwas anderem, das ich langsam zu begreifen beginne. Ich strecke meine Hand aus, und die Robben lassen sich berühren, während sie spielen. Sie wollen, dass ich mit ihnen komme. Sie wollen, dass wir uns alle miteinander im tiefen Wasser tummeln.
Der Schmerz um meine Rippen ist verflogen. Ich fühle mich sicher und geborgen. Bei Faro. Bei den Mer.
»Es ist gefährlich, an die Luft zu denken, wenn du hier bist«, sagt Faro. Sein Gesicht ist ernst, seine Stimme eindringlich. »Das darfst du nie wieder tun. Versprich mir das.«
»Wie kann ich das versprechen? Ich bin doch ein Mensch. Ich brauche die Luft zum Atmen. Ich kann sie nicht einfach vergessen.«
Faro nickt bedächtig. »Das stimmt, aber …« Er hält inne.
»Was aber?«
»Ach, nichts.« Was auch immer er mir erzählen wollte, er hat es sich anders überlegt. »Zeit, nach Hause zu gehen, Sapphire. Spürst du nicht, dass die Flut kommt?«
Neuntes Kapitel
D ie Gezeiten haben eine enorme Gewalt. Sie wissen, wo sie sein wollen, und ziehen das ganze Meer mit sich, hin und zurück. Faro sagt, die Gezeiten sind der Mond, der zu Indigo spricht. Wenn der Mond spricht, muss Indigo zuhören.
Die Flut treibt uns der Küste entgegen: mich, Faro und die Robben. Faro findet als Erster eine geeignete Strömung und im nächsten Moment hat sie uns alle in ihrer Gewalt. Wie seltsam, dass der Wasserspiegel immer noch ansteigt, obwohl ich das Gefühl habe, stundenlang mit Faro unterwegs gewesen zu sein.
»Conor und Elvira sind schon mit der Flut hereingekommen«, sagt Faro. »Conor hat Indigo verlassen.«
Um Conor mache ich mir keine Sorgen mehr. All mein Kummer ist verflogen. Ich kann mich kaum noch erinnern, warum ich so verzweifelt war. Ich halte mich an Faros Handgelenk fest und bin in Indigo geborgen.
Faro bringt mich bis zur Mündung der Bucht. Ich will nicht, dass er noch weiter mitkommt, weil ich weiß, wie sehr er dann leiden würde. Seine Lungen würden brennen, wenn er die Haut durchdränge, die Indigo von der Luft trennt. Er sagt zwar, er würde mich auch auf dem ganzen Weg begleiten, doch ich lehne ab. Ich habe keine Angst, mich von Faro zu trennen, weil ich weiß, dass ich zurückkommen
werde. Der Sog von Indigo ist in mir und er ist so mächtig wie die Gezeiten.
»Ist schon in Ordnung, Faro. Ich weiß jetzt, wo ich bin. Du brauchst mich nicht weiter zu begleiten.« Ich sehe, wie erleichtert er ist, obwohl er versucht, sich nichts anmerken zu lassen.
Die Robben sind immer noch bei uns. Für sie ist es kein Problem, von Indigo an die Luft zu gelangen, weil sie in beiden Elementen leben können. Sie bleiben also die ganze Zeit bei mir und lassen sich ebenfalls von der Flut treiben. Ich halte mich immer noch an Faros Handgelenk fest, als ich die Stelle erblicke, an der das tiefe Wasser endet. Von hier aus kann ich problemlos an Land schwimmen.
»Du wirst keine Schmerzen haben, wenn du die Haut durchdringst«, erinnert mich Faro. »Diesmal gehst du nach Hause.«
»Schwimm nicht weiter«, bitte ich ihn. Ich habe plötzlich das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Er hat auf mich aufgepasst, als wir in Indigo waren, und jetzt passe ich auf ihn auf, während wir uns meiner Heimat nähern. Die Wasseroberfläche zittert nahe über unseren Köpfen. Das Licht ist grell, und der Kontakt mit der Luft wäre für Faro wie ein Messerstich – so wie für mich der Augenblick, als wir in der Tiefe verschwanden.
Fetzen von Licht und Schatten tanzen über den Meeresboden und über Faro hinweg. Er sieht zugleich wie ein Junge, eine Robbe und ein Schatten aus, als er einen letzten Salto rückwärts vollführt. Plötzlich ist nur noch der Schatten zu sehen und Faro ist verschwunden. Ich habe mich gar nicht von ihm verabschiedet. Habe ihn nicht gefragt, wann wir uns wiedersehen.
Aber das ist auch nicht nötig. Ich bin sicher, dass ich ihn bald wiedersehen werde.
Die beiden Robben haben mich in ihre Mitte genommen. Sie wollen mich vorwärts bis ins seichte Wasser stupsen. Auch die Flut tut das Ihrige und plötzlich sehe ich den Sand unter meinen Füßen.
»Sagt Faro, dass ich bald wiederkomme«, bitte ich die Robben. Sie schwimmen um mich herum, und ich bin mir nicht sicher, ob sie
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