Nixenblut
ich will nur kein Huhn.«
»Das Huhn sieht großartig aus«, bemerkt Roger.
»Als es draußen herumlief, sah es noch besser aus«, entgegne ich. Ich fühle mich auf sicherem Grund, weil ich weiß, dass dies eines von Nances Hühnern ist. Ich muss es also tatsächlich oft draußen gesehen haben.
Wahrscheinlich habe ich ihm sogar manchmal Körner hingestreut, was es mir noch schwerer macht, es jetzt auf dem Teller zu betrachten.
»Was ist besser für ein Huhn?«, fragt Conor. »Wenn es draußen herumläuft, ein schönes Leben hat und schließlich gegessen wird oder wenn man es in einen Käfig sperrt, aus dem es nie herauskommt, um schließlich eines natürlichen Todes zu sterben?«
Mum gießt einen langen Streifen Bratensaft über Rogers Teller. Ihre Lippen sind vor Verärgerung zusammengepresst. Ihr Gesicht ist von der Hitze des Ofens und der Sommerwärme gerötet, und plötzlich bereue ich, etwas über herumlaufende Hühner gesagt zu haben.
»Komm, oh Herr, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast«, sagt Roger. Wir schauen ihn an. Sein Gesicht ist ernst und ruhig. Er nickt mir zu, greift zu Messer und Gabel und beginnt zu essen.
»Nichts gegen deinen Arbeitsplatz, Jennie, aber dieses Gericht schlägt alles, was ich je in einem Restaurant gegessen habe«, sagt er, nachdem er die ersten Bissen verschlungen hat. Ich lausche nur dem Klang seiner Stimme, ohne auf die Wörter zu achten, und mache eine unerwartete Entdeckung. Mum hat uns gar nicht erzählt, dass Roger Australier ist. Allerdings ist sein Akzent nicht besonders stark. Vielleicht ist er vor gar nicht langer Zeit nach Australien gezogen, um am Great Barrier Riff zu tauchen.
»Habe ich Soße am Kinn?«, fragt Roger lächelnd.
Ich muss ihn gedankenverloren angestarrt haben.
»Nein, nein«, entgegne ich, »ich habe mich nur gefragt, ob Sie aus Australien kommen?«
Roger scheint beeindruckt zu sein. »Ja, das stimmt. Ich wurde in einem kleinen Ort der Blue Mountains in der Nähe von Sydney geboren. Meine Eltern sind nach ihrer Heirat dorthin ausgewandert. Aber die Dinge haben sich nicht nach ihren Vorstellungen entwickelt, also zog meine Mutter hierher zurück, als ich zehn Jahre alt war. Ich denke, man kann immer noch ein bisschen australischen Akzent bei mir heraushören, wenn man ein Ohr dafür hat.«
»Das habe ich ja gar nicht gewusst«, sagt Mum.
»Deine Tochter hat ein feines Gehör«, sagt Roger, und ich kann nicht anders, als mich geschmeichelt zu fühlen. Ich senke den Blick, um mein Lächeln zu verbergen. Ich will nicht, dass Mum denkt, ich könnte Roger mögen.
»Iss deinen Brokkoli, Sapphire«, sagt Mum automatisch, obwohl ich ihn schon aufgegessen habe.
»Sie sieht schon viel besser aus, oder?«, fährt Mum fort. Das ist keine wirkliche Frage, deshalb antwortet auch niemand.
»Es geht dir doch schon besser, oder, Sapphire?«
»Äh, ja …«, beginne ich, als mir klar wird, dass ich mich alles andere als besser fühle. Hingegen habe ich das merkwürdige Gefühl, der Esstisch entferne sich von mir. Conor blickt mich besorgt an. Es kommt mir so vor, als sei sämtliche Luft aus dem Raum entwichen, obwohl die Tür zur Küche offen steht. Der Essensgeruch nimmt mir den Atem. Warum sitzen wir hier drinnen, wenn draußen die Sonne auf das Gras scheint und das Meer ruft.
»Der Gezeitenwechsel steht unmittelbar bevor«, sage ich, bevor ich begreife, was ich da ausspreche.
Roger schaut auf seine Uhr. »Du hast völlig Recht«, sagt er überrascht. »Auf die Minute. Du beobachtest die Gezeiten?«
»So wie Sie.«
»Bei mir ist das selbstverständlich. Als Taucher ist es mir zur zweiten Natur geworden.«
»Bei Saph ist es die erste Natur«, sagt Conor. Ich traue meinen Ohren nicht. Will er etwa unsere Geheimnisse verraten ?
»Ach, wirklich?«, fragt Roger. Er mustert mich nachdenklich. Ich vermute, dass Taucher von Haus aus gute Beobachter sind.
»Ich habe schon Leute kennen gelernt, die genau über den Stand des Wassers Bescheid wussten, ohne auf die Uhr oder den Tidenkalender blicken zu müssen. Ich dachte, das hinge mit ihrer lebenslangen Erfahrung zusammen. Aber bei dir muss das andere Ursachen haben, Sapphire.«
»Die Kinder sind mit dem Geräusch des Meeres aufgewachsen«, sagt Mum. »Kinder in dieser Gegend haben doch automatisch eine sehr enge Verbindung zum Meer, jedenfalls meine.«
»Eine bessere Art aufzuwachsen kann ich mir gar nicht vorstellen«, erwidert Roger. »Sag mal, Sapphire, klingt das Meer nach dem
Weitere Kostenlose Bücher