Nixenfluch
Saldowrs Spiegel gesehen habe, sah sie sanft und jung aus. Doch ich werde auf ihr Spiel nicht hereinfallen. Ich werde die Wahrheit herausfinden und Mellina auffordern, Dad gehen zu lassen. Ihm zu ermöglichen, nach Hause zurückzukehren.
»Okay, Faro. Lass uns reingehen.«
Wir schwimmen bis zur Kante einer schmalen Felswand. Ich trete auf der Stelle, halte mich hinter dem Felsen verborgen und spähe vorsichtig um die Ecke.
Vor mir liegt eine gigantische unterirdische Höhle von der Größe einer Kathedrale. Die Wände neigen sich nach innen und haben viele, übereinanderliegende Reihen, die aussehen wie die Stuhlreihen in einem Theater. Ich frage mich, ob das Meer sie ausgewaschen hat oder ob die Mer sie aus dem Fels herausgeschlagen haben.
Dann sehe ich die Mer. Es sind Hunderte, vielleicht Tausende, so wie Faro gesagt hat. Sie sind so real wie eine Menschenmenge beim Fußball und doch so unwirklich wie ein Traum. Ihre Schwanzflossen glitzern. Ihre langen Haare schlängeln sich im Wasser und verdecken zum Teil ihre Körper. Manche tragen schimmernde Netzumhänge und Perlen, andere Mieder aus gewebtem Seetang.
Das Licht kommt von oben. Es durchdringt das Wasser und gelangt bis hierher, ins Herz des Meeresgebirges. Für einen kurzen Moment kommt mir die Sonne mit ihrem hellen Licht in den Sinn, doch im nächsten Moment ist dieser Gedanke schon wieder verschwunden. Die Menschenwelt scheint mir so weit weg wie China oder Paraguay zu sein.
Ich betrachte verwundert den riesigen Raum. Die hintere Wand leuchtet phosphoreszierend. Auch die Haut der Mer funkelt jetzt in einem Blau, wie ich es nie zuvor gesehen habe. Es ist dasselbe Blau, das in Wellen über ihre Schwanzflossen wandert. An Faro habe ich das noch nie bemerkt. Vielleicht ist es das Licht der Höhle, das alles verändert. Alle sehen fremdartig … und wunderschön aus.
»Meine Leute«, sagt Faro mit solchem Stolz in der Stimme, dass ich mich zu ihm umdrehe. Seine Schultern sind versteift, seine Hände geballt, seine Augen starr nach vorn gerichtet.
»Meine Leute«, wiederholt er. »Ich würde mein Leben geben, um sie zu verteidigen. Du bist der einzige Mensch, der je auf so einer Versammlung war.«
»Ich fühle mich sehr geehrt«, entgegne ich leise.
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, ehe er fast flehentlich sagt: »Versprich mir, Sapphire, dass du ihnen zuhörst. Selbst wenn … selbst wenn dir das, worum sie dich bitten, völlig unmöglich erscheint.«
»Ich verspreche es, Faro.«
*
Langsam gleiten wir aus unserem Versteck hervor. Ein Kopf dreht sich um, dann ein zweiter. Ein aufgeregtes Murmeln schwappt durch die Höhle.
So viele Augenpaare, die Faro und mich anstarren. So viele Gesichter, die jedes Detail an uns mustern. Ich komme mir vor wie auf einer Theaterbühne. Nur kenne ich weder meinen Text noch weiß ich, was gespielt wird.
Es ist absolut still geworden. Das Wasser ist klar wie Glas. Und nirgendwo ein Schlupfwinkel, in dem ich mich verstecken könnte. Aber das will ich auch gar nicht. Ich schwimme weiter. Denn schließlich habe ich lange auf diesen Augenblick gewartet: den Mer persönlich zu begegnen.
Als starren uns an. Abwartend. Die Atmosphäre ist angespannt. Erwartungsvoll. Was erhoffen sie von uns?
»Schwimm weiter, Sapphire. Sie wollen, dass wir in der Mitte des Raumes sind. Dort drüben, oberhalb des Sprechsteins.«
Er deutet auf einen perlmuttfarbenen Stein, der sich auf dem Boden der Höhle befindet. Er wird von grünen, blauen und purpurnen Linien durchzogen, die wie Adern eines Opals aussehen. Doch es ist kein Opal. Kein Edelstein könnte je so groß sein.
»Komm, Sapphire.«
Wir schwimmen zur Mitte des Raumes. Unsere Körper gleiten mit größter Leichtigkeit durch das Wasser. Wir sind ein Teil seiner Stille. Als wir den Sprechstein erreichen, taucht Faro hinab und berührt ihn mit einer Hand, als bringe dies Glück. Als er wieder aufsteigt, sagt er zu mir: »Schwimm auch nach unten und berühr den Stein, Sapphire.«
»Warum?«
»Weil wir dann deutlicher sprechen.«
Ich tauche hinab und berühre den Stein mit einer leichten Bewegung. Ich erwarte mir einen Energieschub, so wie ich damals die Kraft des Gezeitenknotens gespürt habe, doch dies ist nur ein Stein.
Ein groß gewachsener Mer-Mann mit dem Gesicht eines Adlers löste sich von seinem Sitz in der ersten Reihe, schwimmt zu uns herüber und hebt beide Hände zum Gruß.
»Du musst seinen Gruß erwidern«, flüstert Faro, also hebe auch ich meine Hände.
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