Nixenfluch
ihn nicht davonkommen lassen.
»Genauso unwissend würden die Mer sprechen, wenn sie unter den Menschen wären«, entgegne ich. »Auch du, Ervys. Du hast mich gebeten, hierher zu kommen. Ich war in der Tiefe – im Gegensatz zu euch allen. Wenn du meine Hilfe brauchst, warum erklärst du mir dann nicht in Ruhe, worum es geht, statt mir vorzuwerfen, ich hätte keine Ahnung?«
Nachdem ich zu Ende geredet habe, bin ich völlig außer Atem. Ich habe ein wenig Angst, bin aber auch froh, meinem Herzen Luft gemacht zu haben. Jetzt warte ich darauf, dass Ervys explodiert, aber dazu kommt es nicht. Er sieht mich prüfend an.
»Jetzt sehe ich, dass du mutig genug bist, um in die Tiefe vorzudringen«, sagt er schließlich. »Hör zu: Es gibt Dinge, über die wir Mer lieber nicht reden, doch jetzt bleibt uns keine andere Wahl. Der Krake hat die Macht, unsere Welt zu zerstören. Der Donner seiner Stimme kann den Meeresgrund aufreißen, die Gezeiten entfesseln, Indigo zerstören und selbst in deiner Welt verheerende Schäden anrichten. Als der Krake den Gezeitenknoten aufbrach, hat er kaum geflüstert. Wir können es uns nicht leisten zu warten, bis er losbrüllt. Wir müssen ihn beruhigen. Er muss wieder einschlafen. Und es gibt nur einen einzigen Weg, um dies zu erreichen.«
»Welchen … welchen Weg?«
In der Höhle ist es völlig still geworden. Selbst Ervys scheint mir nicht antworten zu wollen. Es ist eine gespannte Stille, gesättigt mit Furcht.
»Nur eines kann den Kraken wieder besänftigen«, sagt Faro mit tonloser Stimme. »Ein Junge und ein Mädchen müssen ihm geopfert werden. Das ist auch damals geschehen, in der Zeit unserer Vorfahren.«
Ein Raunen läuft durch die Reihen der Mer. Ich kann nicht glauben, was ich da gerade gehört habe. Der Krake ist seit Hunderten von Jahren nicht erwacht, das hat Ervys selbst gesagt. Alte Geschichten neigen dazu, immer mehr verzerrt zu werden. Vielleicht hat es damals eine Epidemie gegeben, zwei Kinder sind ihr zum Opfer gefallen, und die Mer glaubten, sie seien dem Kraken geopfert worden. Dad hat immer gesagt, dass alle Legenden so einen Anfang haben. Es ist ein Körnchen Wahrheit darin, Sapphy, und aus diesem Körnchen erwächst im Laufe der Jahre eine Geschichte, indem sie von Mund zu Mund geht.
Für einen Moment denke ich so intensiv an Dad, dass ich fast glaube, seine Stimme hören zu können. Dann erinnere ich mich an das Baby. Dads neue Familie. Mein kleiner Halbbruder, der friedlich in seiner Steinwiege schlief. Ein Mer-Baby mit einem Mer-Vater, der die Menschenwelt verlassen hat. So wie in den alten Legenden …
Aber diese Legende hat sich genau so zugetragen, nicht wahr, Dad? Sie wuchs und wuchs, ehe sie dich verschlungen hat. Vielleicht ist auch die Legende des Kraken wahr. Doch natürlich glaube ich lieber, dass sich der Mythos des Monsters entwickelt hat, weil die Mer von jeher Angst vor der Tiefe hatten. Doch vielleicht …
Ein Junge und ein Mädchen …
»Sie wurden bis an die Grenze gebracht, dorthin, wo die Tiefe beginnt und die Mer nicht mehr weiterkommen«, sagt Ervys. Seine vor Angst bebende Stimme löst bei mir einen Anflug von Mitgefühl aus. »Sie wurden dem Kraken überlassen. Das ist es, was zur Zeit unserer Vorfahren geschah.«
Wie kann nur jemand seine Kinder einem Monster ausliefern?
Dieser Gedanke flutet durch mein Bewusstsein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn ausgesprochen habe oder nicht.
»Niemand liebt seine Kinder mehr als wir«, sagt Ervys, »doch wenn wir dem Kraken kein Opfer bringen, werden wir alle sterben. Nicht nur die Mer, sondern alle, die in Indigo leben. Es sei denn, wir finden einen anderen Weg.«
Alle, die in Indigo leben … Plötzlich sehe ich Dads Gesicht vor mir. Ich lasse meinen Blick über die Reihen der Mer wandern. Sicher sitzen dort welche, die ihn kennen. Vielleicht ist auch Mellinas Familie hier. Ein seltsames Gefühl breitet sich in mir aus. Wissen sie , ob Dad hier glücklich oder unglücklich ist? Würden sie es wissen, wenn er Indigo wieder verlassen wollte, um in die Menschenwelt zurückzukehren? Conor glaubt, dass die Mer ihn gegen seinen Willen festhalten. Auch ich würde das gerne glauben, doch manchmal fällt es mir schwer. Wäre ich doch nur so sicher wie Conor, dass Dad darauf wartet, dass wir ihn zur Menschenwelt zurückbringen …
Plötzlich finden Ervys’ letzte Worte den Weg in mein Bewusstsein. Einen anderen Weg. Was meint er damit?
»Wir wissen von den Walen, die der Tiefe einen Besuch
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