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Nixenfluch

Nixenfluch

Titel: Nixenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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gewiss nicht.
    Doch es reicht nicht, sich gegen Ervys aufzulehnen. Damit mache ich mir womöglich die Hälfte aller hier versammelten Mer zu Gegnern. Sie werden sich von Ervys einreden lassen, dass es mich nicht kümmert, ob Indigo zugrunde geht oder nicht. Ich muss sie von meinem Standpunkt überzeugen, auch wenn dies bei Ervys selbst zwecklos erscheint.
    Mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung tauche ich zum Sprechstein hinab. Als ich seine Kühle und Festigkeit spüre, klären sich meine Gedanken. Und während ich wieder zu Faro und Ervys emporsteige, weiß ich, was ich sagen werde.
    »Es stimmt, dass ich in der Tiefe war«, beginne ich bedächtig, indem ich mich an alle Mer wende. »Und ich bin lebend zurückgekehrt. Aber ich habe das nicht meiner eigenen Stärke zu verdanken – jedenfalls glaube ich das. Die Tiefe hat es zugelassen. Sie selbst hat entschieden, mich leben zu lassen. Und dann war da noch ein Wal …«
    Bei der Erinnerung an den Wal wird mir leichter ums Herz. Es war ein riesengroßes Weibchen gewesen, das mir wie ein zerklüfteter Berg erschien. Sie war sehr fürsorglich und hatte einen unglaublichen Humor. Sie hätte mir nicht helfen müssen, tat es aber trotzdem. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich wohlbehalten nach Indigo zurückgekehrt bin.
    Die Mer glauben, dass manche die Fähigkeit haben, in die Tiefe vorzudringen, und andere eben nicht. Aber es gehört viel mehr dazu. Man muss seinen eigenen Weg finden, wenn man es bis dorthin geschafft hat.
    »Ich muss also erst mal mit Saldowr sprechen, denn ich kann nicht allein entscheiden, ob ich ein weiteres Mal in die Tiefe gehen kann oder nicht. Saldowr wird wissen, was zu tun ist, da bin ich ganz sicher. Und mein Bruder …«
    Conor war der Einzige, der die Inschrift lesen konnte, die den Gezeitenknoten heilte. Selbst mit Faros Hilfe werde ich es nicht allein schaffen. Ich muss Conor bei mir haben.
    »Mein Bruder wird mich zu Saldowr begleiten«, sage ich so entschieden wie möglich. »Ich muss zuerst mit meinem Bruder sprechen, und dann werden wir gemeinsam Saldowr aufsuchen.«
    Ein allgemeines Murmeln schwappt durch die Höhle. Die Reihen der Mer schwanken, als würden sie von gegenläufigen Strömungen mal in die eine, mal in die andere Richtung getrieben. Ervys beobachtet sie mit verschränkten Armen und aufgebrachter Miene.
    Für eine lange Zeit scheint die Auseinandersetzung wortlos hin und her zu wogen. Dann verlässt eine Mer-Frau mit langen weißen Haaren ihren Platz und schwimmt langsam nach vorn. Sie taucht zum Stein hinab, steigt wieder auf und erhebt die Stimme. Ihr Gesicht ist vom Alter gezeichnet. Ervys beugt ein wenig sein Haupt, bezeugt ihr mürrisch seinen Respekt.
    »Dies ist ein Menschenkind«, sagt sie. Auch fortgeschrittenes Alter hält die Mer offenbar nicht davon ab, Dinge auszusprechen, die offensichtlich sind. Aber das Gesicht der Frau flößt mir Vertrauen ein. »Sie ist ein Mensch, doch zeigt die Tatsache, dass sie sich bei uns aufhalten kann, statt zu ertrinken wie ihre menschlichen Brüder und Schwestern, dass sie nicht nur ein Mensch, sondern auch eine Mer ist. Ihr Blut ist gemischt, ihr Schicksal ist gemischt, ihr Wissen ist gemischt.«
    Jedes Mal, wenn sie »gemischt« sagt, klingt es, als würden zwei Steine aneinanderschlagen.
    »Wir sehen Dinge, die diesem Kind verborgen sind, und das Kind sieht Dinge, die wir nicht sehen können. Wenn sie erst zu Saldowr gehen will, ehe sie uns hilft, dann müssen wir das akzeptieren. Ansonsten riskieren wir, unsere einzige Hoffnung im Kampf gegen den Kraken wieder zu verlieren.«
    Sobald sie aufgehört hat zu sprechen, schwimmt die alte Mer-Frau langsam zu ihrem Platz zurück. Eine Welle der Zustimmung wandert durch die Reihen. Immer mehr Mer nicken bestätigend. Plötzlich verstehe ich, wie solch eine Versammlung funktioniert. Sie stimmen nicht ab, sondern bewegen sich mit den Gezeiten. Und die Gezeiten bewegen sich in meine Richtung. Sie haben sich entschieden, mir zu glauben.
    Auch Ervys hat das begriffen. Die Gezeiten sind zu stark, als dass er gegen sie anschwimmen könnte.
    »Dann lasst sie eben zu Saldowr gehen«, sagt er grimmig, als läge die Entscheidung in seinen Händen. Doch wir alle wissen, dass das nicht der Fall ist. Die Macht der versammelten Mer ist stärker als Ervys’ Wille. Wäre Faro nicht in der Mitte der Raumes, wüsste ich genau, was er jetzt tun würde. Er würde ein paar triumphierende Saltos schlagen und dabei das Wasser so aufpeitschen,

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