Nixenfluch
nicht gebe – oder nicht geben kann –, wonach sie verlangen, was werden sie dann tun?
Nie zuvor habe ich mich so allein gefühlt.
Doch dann spüre ich einen Arm, der sich um meine Schultern legt. Faro ist neben mir. Er dreht sich um und sieht mir in die Augen, als gäbe es Ervys, die Höhle und all die Mer nicht. Er spricht zu mir, als wären wir unter uns.
»Ich begleite dich, Sapphire«, sagt er.
»Wohin?«
Faro sieht mich eindringlich an. »In die Tiefe. Wir müssen den Kraken aufhalten, solange noch Zeit ist. Wir müssen das Opfer verhindern.«
»Aber du kannst nicht in die Tiefe vorstoßen, Faro. Du bist ein Mer.«
Faro wirft die Haare zurück. »Ich kann es versuchen.«
Er ist so tapfer. Er ist schon einmal verletzt worden, als er versuchte, in die Tiefe vorzudringen, um mich zu finden. Obwohl die Tiefe ihn damals fast zerquetscht hätte, ist er erneut bereit, es mit ihr aufzunehmen. Aber es wird ihm nicht gelingen, ich weiß es ganz genau. Niemand hat mehr Mut als Faro, doch Mut allein reicht manchmal nicht aus.
Alle Mer schauen mich mit brennender Erwartung an. Flehend. Fordernd. Der Druck, der von ihnen ausgeht, ist beinahe unerträglich. Aber das können sie nicht von mir verlangen!
Ich muss einen klaren Gedanken fassen. Natürlich! Warum habe ich daran nicht gleich gedacht? Ich brauche Saldowrs Hilfe. Und die von Conor. Ich muss mit Conor reden.
»Ich muss Saldowr sehen«, sage ich mit fester Stimme.
»Saldowr!« Ervys’ Gesicht verzerrt sich vor Zorn, glättet sich jedoch sogleich wieder. »Wie sollte er dir schon helfen? Saldowr ist krank und schwach.«
Faro schlägt empört mit dem Arm aus, als er diese respektlose Äußerung über seinen Lehrmeister hört. Auch unter den Mer, die äußerst unglücklich dreinschauen, macht sich Unruhe breit. Ich lege Faro warnend die Hand auf den Arm. Ich werde von neuer Stärke erfüllt, jetzt, da ein Plan in mir zu reifen beginnt. Ervys traue ich nicht. Er will, dass ich den Mer helfe, aber er verfolgt auch eigene Ziele. Wenn es ihm gelingt, den Kraken wieder einschlafen zu lassen, ohne dass jemand dafür geopfert werden muss, dann wird er in ganz Indigo Berühmtheit erlangen und vielleicht mächtiger als Saldowr werden.
»Ich muss Saldowr sehen«, wiederhole ich und blicke Ervys in die Augen. »Faro und ich werden ihm einen Besuch abstatten. Wir brauchen seinen weisen Rat.«
Es ist schon ein unheimliches Gefühl, einer Persönlichkeit wie Ervys so herausfordernd entgegenzutreten. Meine Stimme möchte zittern, aber das erlaube ich ihr nicht. Ich werde Ervys nicht behilflich sein, seine eigene Macht zu vergrößern. Du willst, dass ich dir helfe , denke ich. Du willst, dass ich in der Tiefe mein Leben riskiere. Du glaubst, mich für deinen Plan einspannen zu können, weil ich ein Mensch und ein Kind bin. Aber ich kannte Saldowr schon lange, bevor wir uns begegnet sind. Wenn ich in die Tiefe vordringe, dann bestimmt nicht deinetwegen.
Ervys’ Brauen ziehen sich zornig zusammen. Seine Schwanzflosse zuckt kurz, so wie der Schwanz eines Löwen beim Anblick einer Antilope. Am liebsten würde er sich auf mich stürzen und mich dafür bestrafen, dass ich mich gegen ihn gestellt und Saldowrs Partei ergriffen habe. Doch er kann mir meinen Wunsch, Saldowr zu sprechen, nicht verwehren. Die ängstlichen und verzweifelten Mer, die sich hier versammelt haben, sind überzeugt davon, dass nur ich ihnen helfen kann. Falls der Krake wirklich erwacht ist, würden sie alles tun, damit er wieder einschläft. Abgesehen davon sind bei Weitem nicht alle auf Ervys’ Seite.
Faros Augen funkeln. Ervys hat es gewagt, vor der gesamten Versammlung abfällig über seinen Lehrer zu sprechen. Jetzt sind sie verfeindet. In Zukunft wird Faro alles tun, was in seiner Macht steht, um zu verhindern, dass Ervys sein Ziel erreicht. Dazu kenne ich Faro gut genug.
»Willst du etwa unsere Zeit vergeuden, indem du einen kranken Heiler besuchst?«, dröhnt Ervys’ Stimme durch das Wasser und zieht ein wellenförmiges Echo nach sich. »Willst du dem Kraken noch mehr Zeit geben, seine Kräfte zu sammeln?«
Sein Gesicht lodert vor Überzeugung, während er stolz seine Schultern zurückschiebt. Einige Mer nicken, manche heben gar ihre Fäuste, was wie eine Art Gruß aussieht. Doch andere sehen eher skeptisch aus oder wenden sogar ihr Gesicht ab. Dann sehe ich Elvira, die in der letzten Reihe sitzt und uns flehentlich anblickt. Auch sie scheint Angst zu haben. Und Ervys traut sie ganz
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