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Nixenfluch

Nixenfluch

Titel: Nixenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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dass nur noch das Schimmern seiner Schwanzflosse und seine wirbelnden Haare zu sehen wären. Stattdessen wirft er mir einen kurzen funkelnden Blick zu, der sagt: Wir haben gewonnen.
    *
    Die Entscheidung ist gefallen. Das Wasser in der Höhle gerät in Bewegung, als die Mer sich von ihren Plätzen erheben und sogleich nach oben schwimmen, dorthin, wo das Licht durch die Decke sickert. Dort muss sich also der Ausgang befinden. Vielleicht führt er ja zum südlichen Eingang, von dem Faro gesprochen hat. Er sagte, dieser Weg sei sicherer, als erneut den Tunnel zu benutzen. Ich will es hoffen. Der Gedanke, mich vielleicht noch einmal in den engen Tunnel begeben zu müssen, lässt mich schaudern. Ich will nach Hause. Will mit Conor reden.
    Die Mer gleiten an mir vorbei. Ihre Schwanzflossen schlagen, und ihre Haare breiten sich aus wie Fächer, während sie an mir vorüberziehen. Sie wechseln kein Wort miteinander. Sie verschwenden keine Zeit. Vielen steht die Angst ins Gesicht geschrieben. Sie wollen nichts als nach Hause, um sich zu vergewissern, dass alle in Sicherheit sind: ihre Kinder und jene, die an der Versammlung nicht teilnehmen konnten, weil sie zu schwach oder krank sind.
    Es ist der Krake, der ihnen Angst macht. Obwohl er weit weg ist, hat er in ihrem Bewusstsein Wurzeln geschlagen.
    Ich strecke die Hand nach Faro aus. Die Menge der vorbeischwimmenden Mer macht mich schwindelig. So viele sind es, junge Männer und alte Frauen. Manche, die in kleinen Gruppen schwimmen, sehen sich so ähnlich, dass sie Brüder, Schwestern und Cousins sein müssen. Mit angespannten Gesichtern strömen sie an mir vorbei.
    Und falls ich es doch nicht fertigbringe? Wenn ich ihnen nicht helfen kann? In der Tiefe ist der Druck des Ozeans so groß, dass man das Gefühl hat, zusammengequetscht zu werden, bis man so dünn wie ein Blatt Papier ist. Kein Leben gibt es dort … außer den Kreaturen der Tiefe, die ich nicht kenne.
    Und dem Kraken. Die Tiefe ist sein Zuhause. Dort unten ist es so finster, dass ich ihn erst sehen oder berühren werde, wenn …
    Denk nicht daran. Denk lieber an den Wal. Mit seiner zerklüfteten Haut sah er aus wie ein riesenhaftes Monster. Ich hatte Angst vor ihm, doch er hat mir geholfen.
    »Sapphire«, sagt eine Stimme nah an meinem Ohr. Eine Figur löst sich aus der Menge der Mer und schwimmt zu mir. Ihre Haare schlängeln sich nach hinten.
    »Elvira, ist Mellina auch hier?« Meine Stimme klingt schroffer als beabsichtigt, aber daran lässt sich nichts ändern. Warum sollte ich nicht auf die Frau böse sein, die mir den Vater genommen hat? Ich verdränge die Erinnerung an Mellinas sanftes, einladendes Lächeln, wie ich es in Saldowrs Spiegel gesehen habe – vor langer Zeit, bevor der Gezeitenknoten sich auflöste und die Flut kam und der Krake in der Tiefe erwachte.
    Saldowr, Mellina, mein Vater, die Tiefe. Sie alle hängen miteinander zusammen, doch ich weiß noch nicht, wie. Alles geschieht zu schnell. Ich schüttele den Kopf, um meine Gedanken zu klären.
    »Mellina«, wiederhole ich. »Ist sie bei euch?«
    »Nein.« Elvira zögert. »Ich hab da was für dich, Sapphire.« Sie öffnet ihre Hand. »Ich habe das gemacht. Kannst du es Conor von mir geben?«
    Es ist eine Koralle. Sie zeigt eine kleine Figur, einen jungen Mer-Mann. Sein Körper ist perfekt aus der Koralle herausgeschnitzt, doch sein Gesicht trägt keine Züge. Es könnte jeden darstellen. In der Schwanzflosse ist ein winziges Loch.
    »Nimm es«, sagt Elvira. »Es ist für Conor.«
    Ich bin mir nicht sicher, ob ich es anfassen möchte.
    »Es ist ein Talisman«, murmelt mir Faro ins Ohr. »Der bringt Glück. Nimm ihn, Sapphire.«
    Ich betrachte die kleine geschnitzte Figur in Elviras Handfläche. Sie lächelt mich an. »Willst du sie ihm geben, Sapphire?«
    Es muss Stunden gedauert haben, die kleine Figur aus der harten Koralle herauszuschnitzen.
    »Bitte gib das Conor«, wiederholt Elvira.
    Plötzlich kommt mir der Verdacht, dass es sich vielleicht um einen magischen Gegenstand handelt, der Conor nach Indigo locken soll – so wie Mellina meinen Vater hierher gelockt hat. Ich zögere erneut, ihn in die Hand zu nehmen.
    »Bitte, Sapphire. Es wird Conor nützlich sein«, sagt Elvira. Kann ich ihr glauben? Wenn es ein Talisman ist, wie Faro sagt, kann ich ihr die Bitte nicht abschlagen. Vielleicht ist Conor ja wirklich auf diesen Glücksbringer angewiesen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass wir im Kampf gegen den Kraken alles Glück dieser Welt

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